Ein Lied für meine Tochter
schlimm?«
Angela tritt auf den Zeugenstand zu. Sie schenkt Dara nach – nicht aus Gewohnheit oder Freundlichkeit, sondern weil sie weiß, dass nun jeder unwillkürlich daran denken wird, was für eine Wirkung das Gesagte auf das Wasser hat. »Bitte nennen Sie uns Ihren Namen und Ihre Adresse fürs Protokoll.«
»Dara Weeks. Und ich wohne in 5901 Renfrew Heights, Wilmington.«
»Wie alt sind Sie?«
Dara wird kreidebleich. »Muss ich Ihnen das wirklich sagen?«
»Ich fürchte ja.«
»Fünfundsechzig. Aber ich fühle mich wie fünfzig.«
»Wie weit leben Sie von Ihrer Tochter und Vanessa Shaw entfernt?«
»Zehn Minuten«, antwortet Dara.
»Haben Sie Enkelkinder?«
»Noch nicht. Aber …« Sie klopft auf das Holz des Zeugenstands.
»Dann freuen Sie sich wohl schon darauf, nehme ich an.«
»Soll das ein Scherz sein? Ich werde die beste Großmutter sein, die je gelebt hat.«
Angela geht vor dem Zeugenstand auf und ab. »Miss Weeks, kennen Sie Vanessa Shaw?«
»Ja, das tue ich. Sie ist mit meiner Tochter verheiratet.«
»Wie denken Sie über die Beziehung der beiden?«
»Ich denke«, antwortet Dara, »dass Vanessa meine Tochter sehr, sehr glücklich macht, und das ist alles, was für mich zählt.«
»War Ihre Tochter immer glücklich in ihren Beziehungen?«
»Nein. Nach der Totgeburt und nach der Scheidung ging es ihr wirklich schlecht. Sie war wie ein Zombie. Ich bin regelmäßig zu ihr gefahren, und wenn ich kam, hatte sie immer noch dieselben Sachen an wie am Tag zuvor. Sie hat nichts gegessen. Sie hat nicht geputzt. Sie hat nicht gearbeitet. Sie hat nicht Gitarre gespielt. Sie hat nur geschlafen. Und auch wenn sie wach war, schien sie zu schlafen.«
»Wann hat sich das geändert?«
»Sie begann, mit einer Schülerin an Vanessas Schule zu arbeiten. Immer häufiger sind Vanessa und sie dann zum Essen gegangen, ins Kino, in Kunstausstellungen oder auf Flohmärkte. Ich war einfach nur froh, dass Zoe jemanden hatte, mit dem sie reden konnte.«
»Aber irgendwann haben Sie dann doch erfahren, dass Zoe und Vanessa mehr als nur gute Freundinnen sind, oder?«
Dara nickt. »Eines Tages sind sie zusammen zu mir gekommen, und Zoe hat gesagt, sie habe mir etwas Wichtiges mitzuteilen, nämlich dass sie sich in Vanessa verliebt hätte.«
»Und wie haben Sie darauf reagiert?«
»Ich war verwirrt. Ich meine, ich wusste, dass Vanessa Zoes beste Freundin geworden war, aber dann hat Zoe mir erklärt, dass sie bei ihr einziehen wolle und dass sie lesbisch sei.«
»Wie haben Sie sich da gefühlt?«
»Als wäre ich von einer Spitzhacke getroffen worden.« Dara zögert. »Ich habe nichts gegen Homosexuelle, aber ich habe meine Tochter nie als homosexuell betrachtet. Ich dachte an die Enkel, die ich niemals haben würde, und daran, was meine Freunde wohl hinter meinem Rücken sagen würden. Doch dann merkte ich, dass ich mich nicht darüber aufregte, in wen Zoe sich verliebt hatte. Ich merkte, dass ich mich so aufregte, weil ich als Mutter nie diesen Weg für sie gewählt hätte. Keine Mutter wünscht sich, dass ihr Kind ein Leben lang gegen Kleingeister ankämpfen muss.«
»Und wie denken Sie jetzt über die Beziehung Ihrer Tochter?«
»Jedes Mal, wenn ich mit ihr zusammen bin, sehe ich, wie glücklich Vanessa sie macht. Die beiden sind wie Romeo und Julia … nur ohne Romeo«, fügt Dara hinzu. »Und bei ihnen gibt es auch ein Happy End.«
»Haben Sie irgendwelche Bedenken, was die Fähigkeiten der beiden betrifft, ein Kind großzuziehen?«
»Ich kann mir kein besseres Heim für ein Kind vorstellen.«
Angela schaut ihr in die Augen. »Miss Weeks, wenn es nach Ihnen ginge, würden Sie Zoes Kinder dann lieber bei Max oder bei Vanessa sehen?«
»Einspruch«, meldet Wade Preston sich zu Wort. »Spekulation.«
»Aber, aber, Mr. Preston«, erwidert der Richter. »Nicht vor dem Wasser. Ich lasse die Frage zu.«
Dara schaut zu Max hinüber, der am Tisch der Kläger sitzt. »Es ist nicht an mir, diese Frage zu beantworten, doch eines kann ich Ihnen sagen: Max hat meine Tochter im Stich gelassen.« Sie dreht sich zu mir um. »Vanessa hingegen wird sie nie loslassen.«
Nach ihrer Aussage setzt sich Dara auf den Platz, den ich neben mir für sie freigehalten habe. Sie nimmt meine Hand. »Und? Wie war ich?«, flüstert sie.
»Absolut professionell«, antworte ich, und das stimmt auch. Wade Preston hatte nichts, womit er sie während des Kreuzverhörs unter Druck hätte setzen können, auch wenn er nach jedem
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