Ein Lied für meine Tochter
sagt Zoe, nachdem die Tänzer sich verneigt haben und sie sich nach einem Ausflug auf die Toilette in der aufwendig renovierten Lobby des Wing Theatre zu mir gesellt. »Ich habe mir immer gewünscht, dass ein Kerl mal auf mich zukommt und ein Gespräch beginnt, das sich ganz natürlich zu einem Sonett entwickelt.«
»Hat Max das nicht gemacht?«, frage ich und lächele.
Zoe schnaubt verächtlich. »Max hat geglaubt, ein Sonett bekäme man im Baumarkt.«
»Ich habe meiner Englischlehrerin mal gesagt, Romeo und Julia gefalle mir am besten«, erzähle ich, »und sie hat daraufhin erklärt, ich sei ein Banause.«
»Was? Warum das denn?«
»Weil es nicht so komplex ist wie Hamlet oder King Lear , nehme ich an.«
»Aber es ist verträumter. Das ist es doch, was man sich so vorstellt, oder?«
»Was stellt man sich vor? Mit seinem Geliebten zu sterben?«
Zoe lacht. »Nein. Zu sterben, bevor man damit anfängt, über die Fehler des anderen Buch zu führen.«
»Ja, stell dir mal vor, wie es für die beiden weitergegangen wäre, wenn es anders gelaufen wäre«, erwidere ich. »Romeo und Julia werden von ihren Familien enterbt und ziehen in einen Trailerpark. Romeo lässt sich einen Nackenspoiler wachsen und wird abhängig von Online-Poker, und Julia hat eine Affäre mit Bruder Lawrence.«
»Der in seinem Keller ein Drogenlabor hat, wie sich herausstellt«, fügt Zoe hinzu.
»Natürlich. Woher hätte er sonst auch wissen sollen, welche Drogen er Julia verabreichen musste?« Ich werfe mir den Schal um den Hals, und wir bereiten uns innerlich auf die Kälte draußen vor.
»Und was jetzt?«, fragt Zoe. »Glaubst du, es ist zu spät, um noch was zu essen …?« Ihre Stimme verhallt, als wir hinaustreten. In den drei Stunden, die wir im Theater verbracht haben, hat der Sturm sich zu einem Blizzard gesteigert. Ich kann die Hand kaum noch vor Augen sehen, so wild wirbelt der Schnee um mich herum. Ich mache einen vorsichtigen Schritt, und mein Schuh versinkt fast acht Zoll im Neuschnee.
»Wow!«, sage ich. »Das sieht nicht gut aus.«
»Vielleicht sollten wir den Sturm abwarten, bevor wir nach Hause fahren«, schlägt Zoe vor.
Der Chauffeur einer Limousine, der an seinem Fahrzeug lehnt, schaut zu uns herüber. »Dann stellen Sie sich mal lieber auf eine lange Wartezeit ein, Ladys«, sagt er. »Laut Wetterbericht fallen bis dahin noch zwei Fuß.«
»Dann übernachten wir hier«, verkündet Zoe. »Es gibt jede Menge Hotels in dieser Gegend …«
»… die alle ein Vermögen kosten.«
»Nicht, wenn wir uns ein Zimmer teilen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Außerdem gibt es dafür ja Kreditkarten.« Sie hakt sich bei mir unter und zieht mich in den Sturm hinaus. Auf der anderen Straßenseite ist eine Drogerie. »Zahnbürsten, Zahnpasta, und ich brauche auch ein paar Tampons«, sagt Zoe, als die Tür sich hinter uns wieder schließt. »Wir können uns auch Nagellack und Lockenwickler holen. Dann schminken und frisieren wir uns gegenseitig, bleiben lang auf und plaudern über Jungs …«
Nein, das wird wohl kaum passieren , denke ich nur. Aber Zoe hat recht: Jetzt nach Hause zu fahren, wäre Selbstmord.
»Und da gibt es noch etwas, das du in Betracht ziehen solltest«, versucht sie, mich zu überreden. »Ich sage nur eins: Zimmerservice.«
Ich zögere. »Darf ich den Film im Pay-TV aussuchen?«
»Abgemacht.« Zoe schüttelt mir die Hand.
Es gibt nicht wirklich einen Grund, warum ich mich gegen eine spontane Hotelübernachtung wehren sollte. Ich kann mir den Luxus für eine Nacht leisten, oder zumindest kann ich das vor mir selbst rechtfertigen. Dass ich Zoe bis jetzt noch nichts von meiner sexuellen Orientierung erzählt habe, ist ja keine Lüge, es hat sich einfach noch nicht ergeben. Hätte sie gefragt, hätte ich ihr natürlich die Wahrheit gesagt. Und nur weil ich lesbisch bin, heißt das noch lange nicht, dass ich mich automatisch auf jede Frau stürze, die mir zu nahe kommt – auch wenn das die Homophoben glauben. ABER: Natürlich ist es grotesk zu glauben, dass eine heterosexuelle Frau nicht mit einem Mann auch einfach nur befreundet sein könnte. Aber wenn sie sich in einer ähnlichen Situation wie wir befinden würde, dann würde sie vermutlich nicht das Zimmer mit ihrem männlichen Freund teilen.
Als ich meiner Mutter irgendwann gestanden habe, dass ich homosexuell bin, war ihre erste Reaktion, »Aber du bist doch so hübsch!«, als würden Homosexualität und gutes Aussehen einander ausschließen.
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