Ein Lied für meine Tochter
ich nicht sehen kann. Sie bekommt wieder frisches Blut über eine Infusion.
Als ich das letzte Mal in einem Krankenhaus war, da lag meine Mutter im Sterben, und es war ein langsamer Tod. Die Diagnose hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs gelautet, und es war kein Geheimnis, dass die Morphiumdosis immer weiter erhöht wurde, um den Schmerz zu unterdrücken, bis sie fast nur noch schlief. Ich weiß natürlich, dass Zoe nicht meine Mutter ist, dass sie nicht die gleiche Krankheit hat, und doch vermittelt mir die Art, wie sie da liegt, das Gefühl, als würde ich erneut ein Kapitel im Buch meines Lebens lesen, von dem ich mir gewünscht hätte, es wäre nie gedruckt worden.
»Vanessa«, sagt Zoe, und ich zucke unwillkürlich zusammen. Zoe leckt sich über die Lippen. Sie sind trocken und weiß.
Ich greife nach ihrer Hand. Es ist das erste Mal, dass ich Zoes Hand halte. Sie fühlt sich klein und zerbrechlich an. Vom Gitarrenspiel hat sie Schwielen an den Fingerspitzen. »Ich habe versucht, deine Mutter zu erreichen«, sage ich, »aber sie ist nicht drangegangen. Natürlich hätte ich ihr auch auf den Anrufbeantworter sprechen können, aber ich habe mir gedacht …«
»Ich kann nicht …«, murmelt Zoe und hält inne.
»Was kannst du nicht?«, flüstere ich und beuge mich näher an sie heran, um sie besser hören zu können.
»Ich kann nicht glauben …«
Es gibt so viele Dinge, die ich nicht glauben kann. Ich glaube nicht, dass Menschen verdienen, was sie bekommen, egal ob es gut oder schlecht ist. Ich glaube nicht, dass ich eines Tages in einer Welt lebe, in der die Menschen danach beurteilt werden, was sie tun, und nicht danach, was sie sind. Ich glaube nicht, dass ein Happy End an Bedingungen geknüpft ist …
»Ich kann nicht glauben«, haucht Zoe kaum hörbar, »dass wir das Geld für ein Hotelzimmer verschwendet haben …«
Ich schaue sie an und versuche herauszubekommen, ob das ein Scherz war, doch Zoe ist bereits wieder eingeschlafen.
Es ist schon lange her, dass Homosexualität und Pädagogik unvereinbar waren, aber trotzdem herrscht an meiner Schule noch immer eine Politik des Wegschauens und Schweigens. Ich verberge meine sexuelle Orientierung nicht aktiv vor meinen Kollegen, aber ich posaune sie auch nicht heraus. Ich bin eine von zwei erwachsenen Beratern der Rainbow-Alliance der homosexuellen Schüler, und der andere, Jack Kumanis, ist so heterosexuell, eindeutiger geht es nicht. Er hat fünf Kinder, macht Triathlon und zitiert gerne aus Fight Club … und er ist zufälligerweise bei zwei Müttern aufgewachsen.
Trotzdem bin ich vorsichtig. Obwohl die meisten Schulpsychologen sich nichts dabei denken, ihre Bürotür zu schließen, wenn sie eine Sitzung mit einem Schüler haben, mache ich das nie. Meine Tür steht immer einen Spalt auf, sodass kein Zweifel daran bestehen kann, dass alles, was hier geschieht, vollkommen legitim ist.
Mein Job umfasst die ganze Palette vom einfachen Zuhören bis hin zur Netzwerkarbeit mit den Zulassungsstellen der Universitäten, damit auch das schüchternste Kind die notwendige Unterstützung bei den Collegetests bekommt, wenn Hunderte Gleichaltrige versuchen, sich in den Vordergrund zu drängen. Heute habe ich die Mutter von Michaela Berrywicks auf der Couch, einer Neuntklässlerin, die gerade ein B+ in Sozialkunde bekommen hat. »Mrs. Berrywick«, sage ich, »das ist nicht das Ende der Welt.«
»Ich glaube, Sie verstehen mich nicht, Miss Shaw. Seit sie denken kann, wünscht Michaela sich nichts sehnlicher, als nach Harvard zu gehen.«
Irgendwie bezweifele ich das. Kein Kind plant seinen Highschool-Abschluss von der Wiege an. Das hat mehr mit ehrgeizigen Eltern zu tun. Als ich noch auf der Schule war, gab es den Begriff Helikoptereltern noch gar nicht. Inzwischen aber schweben die Eltern oft tatsächlich ständig über ihren Kindern, sodass die gar nicht mehr wissen, was es eigentlich bedeutet, Kind zu sein.
»Es kann nicht sein, dass ein Geschichtslehrer, der persönliche Vorbehalte gegen sie hat, einen bleibenden Fleck auf ihrer Akte hinterlässt«, erklärt Mrs. Berrywick. »Michaela ist mehr als bereit, alles Notwendige zu tun, damit Mr. Levine seine Benotung noch einmal überdenkt …«
»Harvard ist es egal, ob Michaela ein B+ in Sozialkunde hat. In Harvard zählt nur, dass sie in ihrem ersten Jahr mehr darüber lernt, wer sie wirklich ist, dass sie etwas findet, das ihr gefällt.«
»Ja, genau«, sagt Mrs. Berrywick. »Deshalb macht sie ja auch
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