Ein Lied für meine Tochter
Dann hat sie geschwiegen und ist in die Küche gegangen. Ein paar Minuten später kam sie wieder ins Wohnzimmer und setzte sich mir gegenüber. »Wenn du im Schwimmbad bist, gehst du dann in die Damenumkleide?«
»Natürlich«, antwortete ich angefressen. »Ich bin nicht transsexuell, Ma.«
»Aber Vanessa«, hakte sie nach, »wenn du da drin bist … Ich meine … Schaust du dich heimlich um?«
Übrigens: Die Antwort darauf lautet Nein. Ich ziehe mich in einer Kabine um und starre dabei die meiste Zeit auf den Boden. Wahrscheinlich ist mir das Ganze unangenehmer, als es jeder anderen Frau wäre, wenn sie wüsste, dass die Frau in dem violetten Badeanzug lesbisch ist.
Aber das ist auch nur eine von den Sachen, über die ich mir den Kopf zerbrechen muss, während es anderen Menschen völlig egal ist.
»Oha«, sagt Zoe, als sie das Zimmer betritt. »Das nenne ich mal protzig.«
Wir sind in einem jener Hotels, die nach den Bedürfnissen des metrosexuellen Geschäftsmanns umgestaltet wurden, und offensichtlich mag dieser Typus Mensch schwarze Decken, verchromte Lampen und Margaritas in der Minibar. Zoe öffnet die Vorhänge und schaut auf die Straße hinunter. Dann zieht sie die Stiefel aus und springt auf eines der beiden Betten. Schließlich greift sie nach der Tüte aus der Drogerie. »Nun denn«, sagt sie, »ich sollte wohl mal auspacken.« Sie hält zwei Zahnbürsten in die Höhe, eine blau, die andere lila. »Hast du irgendwelche Vorlieben?«
»Zoe … Du weißt doch, dass ich lesbisch bin, oder?«
»Ich habe von den Zahnbürsten gesprochen«, sagt sie.
»Ich weiß.« Ich fahre mir mit der Hand durch mein lächerlich kurzes Haar. »Es ist nur … Ich will nicht, dass du denkst, ich würde etwas vor dir verbergen.«
Zoe setzt sich mir gegenüber aufs Bett. »Ich bin Fisch.«
»Was soll das bedeuten?«
»Was soll es für mich bedeuten, dass du lesbisch bist?«, erwidert sie.
Ich lasse die Luft raus, obwohl ich noch nicht einmal gemerkt hatte, dass ich sie angehalten habe. »Danke.«
»Für was?«
»Für … Ich weiß. Dafür, dass du so bist, wie du bist.«
Sie grinst. »Ja. Wir Fische sind schon was Besonderes.« Sie kramt wieder in der Drogerietüte und holt eine Schachtel Tampons heraus. »Ich bin gleich wieder zurück.«
»Alles okay mit dir?«, frage ich. »Das ist jetzt schon das fünfte Mal in nur einer Stunde, dass du ins Badezimmer musst.« Ich greife nach der Fernsehfernbedienung, während Zoe im Bad ist. Im Moment laufen vierzig Filme. »Hör mal«, rufe ich. »Wir haben folgendes Angebot …« Ich lese alle Titel vor, während ein Adam-Sandler-Clip in Dauerschleife läuft. »Ich könnte jetzt eine Komödie brauchen«, sage ich. »Hast du die mit Jennifer Aniston schon im Kino gesehen?«
Zoe antwortet nicht. Ich höre Wasser laufen.
»Irgendwelche Ideen?«, brülle ich. »Vorschläge? Kommentare?« Ich gehe die Titel noch mal durch. »Falls nicht, dann treffe ich jetzt einfach eine endgültige Entscheidung …« Auf der Seite mit der Kaufbestätigung halte ich inne, denn ich will nicht, dass Zoe den Anfang verpasst. Während ich warte, gehe ich die Speisekarte des Zimmerservice durch. Für den Preis des T-Bone-Steaks könnte man sich einen Kleinwagen kaufen, und ich weiß nicht, warum Eis nur in Bechern und nicht in Kugeln verkauft wird, aber insgesamt sieht das Angebot deutlich besser aus als das, was ich zu Hause mache.
»Zoe! So langsam habe ich ein Loch im Magen!« Ich schaue auf die Uhr. Es ist inzwischen zehn Minuten her, seit ich den Bildschirm eingefroren habe, und fünfzehn, seit Zoe ins Badezimmer gegangen ist.
Was, wenn sie nicht wirklich so über mich denkt, wie sie gesagt hat? Was, wenn sie es bereut, das Zimmer gemietet zu haben? Was, wenn sie Angst hat, in ihr Bett zu kriechen? Ich stehe auf und klopfe an die Badezimmertür. »Zoe?«, rufe ich. »Alles okay?«
Keine Antwort.
»Zoe?«
Jetzt werde ich nervös.
Ich rüttele am Türknauf und brülle erneut Zoes Namen. Dann werfe ich mich mit all meinem Gewicht gegen die Tür, und das Schloss gibt nach.
Das Wasser läuft. Die Tamponschachtel ist ungeöffnet. Und Zoe liegt bewusstlos auf dem Boden, die Jeans auf ihren Knöcheln und der Slip sind blutdurchtränkt.
Ich fahre mit Zoe im Krankenwagen die kurze Strecke zum Brigham and Women’s Hospital. Wenn das Ganze etwas Gutes hat, dann ist das die Tatsache, dass es hier in Boston passiert ist, wo uns die besten medizinischen Einrichtungen der Welt zur Verfügung
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