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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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leid.«
    Sie antworten mir nicht, aber das müssen sie auch nicht. Eine Krankheit kann Fremde zu einer Familie machen.
    Ein Pfleger sitzt neben dem Bett und macht einen Gipsabdruck von Marisas Hand, bevor sie von uns geht. Das wird allen Eltern angeboten, deren Kind hier im Sterben liegt. Die Luft fühlt sich irgendwie schwerer an, als würden wir Blei atmen.
    Ich trete einen Schritt zurück neben Marisas Schwester Anya. Sie schaut mich an. Ihre Augen sind rot und geschwollen. Ich drücke ihre Hand. Dann nehme ich die Stimmung auf und improvisiere auf meiner Gitarre in Moll. Plötzlich dreht Michael sich zu mir um. »Wir wollen nicht, dass Sie das hier drin spielen.«
    Mir steigt das Blut in die Wangen. »Ich … Es tut mir leid … Ich werde dann gehen.«
    Michael schüttelt den Kopf. »Nein, das habe ich nicht gemeint. Wir möchten, dass Sie die gleichen Lieder spielen, die Sie immer für sie gespielt haben. Die Lieder, die sie so geliebt hat.«
    Und das tue ich. Ich spiele Old MacDonald und all die anderen Lieder, und Marisas Familie stimmt ein. Der Pfleger, der den Gipsabdruck gemacht hat, wischt die Hand sauber.
    Und als die Maschinen, die Marisas Puls und Atmung messen, einen Dauerton von sich geben, da singe ich weiter.
    My Bonnie lies over the ocean. My Bonnie lies over the sea.
    Ich schaue zu, wie Michael sich neben das Bett seiner Tochter kniet, und Louisa legt die Hand auf die ihrer Tochter. Anya bricht beinahe zusammen.
    My Bonnie lies over the ocean. Oh, bring back my Bonnie to me.
    Ein hoher Ton erfüllt den Raum, und eine Krankenschwester kommt herein. Sie schaltet die Monitore ab, legt Marisa sanft die Hand auf die Stirn und spricht der Familie ihr Beileid aus.
    Bring back.
    Bring back.
    Bring back my Bonnie to me.
    Als ich zu Ende gespielt habe, breitet sich eine unheimliche Leere im Raum aus.
    »Es tut mir leid«, sage ich erneut.
    Michael streckt die Hand aus. Ich habe keine Ahnung, was er will, doch mein Körper scheint es zu wissen. Ich gebe ihm das Plektron, mit dem ich gerade gespielt habe, und er drückt es in den noch nassen Gips, direkt über den Abdruck von Marisas Hand.
    Ich reiße mich zusammen, bis ich aus dem Zimmer bin. Dann sinke ich gegen die Wand und rutsche daran herunter, bis ich schluchzend auf dem Boden sitze. Und ich drücke die Gitarre an meine Brust, wie Marisas Mutter den Körper ihrer toten Tochter an sich gedrückt hat.
    Und dann …
    Dann höre ich ein Baby schreien, hoch und laut und immer hysterischer. Schwerfällig rappele ich mich wieder auf und folge dem Geräusch zu dem Zimmer zwei Türen weiter, wo eine in Tränen aufgelöste Mutter und eine Krankenschwester ein Kleinkind festhalten, während ein Arzt ihm Blut abzunehmen versucht. Sie alle drehen sich zu mir um, als ich den Raum betrete. »Vielleicht kann ich ja helfen«, sage ich.
    Es war ein höllischer, anstrengender Tag im Krankenhaus, und meine Heimfahrt wird von dem Gedanken an ein großes Glas Wein auf meiner Couch beherrscht. Deshalb wäre ich auch fast nicht rangegangen, als Max’ Name auf dem Handydisplay erscheint. Doch dann seufze ich, hebe ab, und er fragt mich, ob ich kurz Zeit hätte. Er sagt nicht wofür, aber ich nehme an, ich muss noch ein paar Papiere unterschreiben. Selbst nach einer Scheidung herrscht kein Mangel an Papierkram.
    So bin ich denn auch vollkommen überrascht, als er mit einer Frau im Schlepptau vor meiner Haustür steht. Und ich bin schockiert, als ich erkennen muss, dass er nicht wegen irgendwelcher Papiere gekommen ist, sondern um mich von meinem neuen, sündigen Leben zu erretten.
    Ich würde ja lachen, wenn mir nicht so nach Weinen zumute wäre. Ich habe heute eine Dreijährige sterben sehen, doch mein Exmann glaubt, ich sei das, was an dieser Welt falsch ist. Wenn sein Gott nicht so sehr damit beschäftigt wäre, die Leben von Menschen wie Vanessa und mir zu beobachten, dann hätte er Marisa vielleicht retten können.
    Doch das Leben ist ungerecht. Deshalb schaffen kleine Mädchen es nicht bis zu ihrem vierten Geburtstag. Deshalb habe ich so viele Babys verloren. Deshalb scheinen Menschen wie Max und mein Gouverneur zu glauben, mir sagen zu können, wen ich lieben darf und wen nicht. Und wenn das Leben ungerecht ist, dann darf ich das auch sein. Also richte ich all die Wut, die ich empfinde, auf Dinge, die ich weder ändern noch kontrollieren kann. Ich richte sie auf den Mann und die Frau, die mir gegenüber auf der Couch sitzen
    Ich frage mich, ob Pastor Clive, der den

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