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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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gleiche Gefühl, das ich auch im Frühling immer habe, wenn nach einem langen Winter die ersten Krokusse blühen. Endlich.
    Wir ziehen die Köpfe ein, rennen durch den Regen zu Vanessas Wagen und laden die Einkäufe ein. Als Vanessa die Tüten in den Kofferraum legt, laufen zwei Kinder an uns vorbei. Sie sind gerade erst in der Pubertät. Der Junge hat einen kaum sichtbaren Flaum, und das Mädchen kaut auf einem Kaugummi. Sie haben die Arme umeinandergelegt und die Hand in die Hosentasche des jeweils anderen gesteckt.
    Die beiden sind kaum älter als 12 oder 13, viel zu jung, um miteinander auszugehen, trotzdem scheint sich niemand an dem Anblick zu stören. »Hey«, sage ich, und Vanessa dreht sich zu mir um. Ich nehme ihr Gesicht in die Hände und küsse sie lang und leidenschaftlich. Ich hoffe, Max schaut zu. Ich hoffe, die ganze Welt schaut zu.
    Wenn Menschen Schreie hören, laufen sie meist in die entgegengesetzte Richtung weg. Ich hingegen schnappe mir meine Gitarre und renne dorthin.
    »Hi«, sage ich und platze in ein Behandlungszimmer der Pädiatrie. »Kann ich helfen?«
    Die Krankenschwester, die gerade tapfer versucht, einem kleinen Jungen die Infusionsnadel aus dem Arm zu ziehen, seufzt erleichtert. »Tun Sie sich keinen Zwang an, Zoe.«
    Die Mutter des Jungen, die ihn auf dem Bett festhält, nickt mir zu. »Er weiß, dass ihm die Nadel beim Hineinstechen wehgetan hat, und jetzt glaubt er, dass es auch wehtut, wenn sie wieder rausgezogen wird.«
    Ich stelle Blickkontakt zu ihrem Sohn her. »Hi«, sage ich. »Ich bin Zoe. Und wie heißt du?«
    Seine Unterlippe zittert. »C… Carl.«
    »Carl, singst du gerne?«
    Trotzig schüttelt er den Kopf. Ich schaue mich im Zimmer um und sehe einen Haufen Power-Ranger-Figuren auf dem Nachttisch. Ich nehme meine Gitarre und spiele die Melodie von The Wheels on the Bus , allerdings ändere ich den Text. »The Power Rangers … They kick kick kick« , singe ich. »Kick kick kick … Kick kick kick … The Power Rangers they kick kick kick … all day long.«
    Irgendwann, mitten in der Strophe, hört der Junge auf, sich zu wehren, und schaut mich an. »They also jump« , sagt er.
    Und so singen wir die nächste Strophe gemeinsam. Dann erzählt Carl mir zehn Minuten lang, was die Power Rangers sonst noch tun – der Rote, der Pinkfarbene und der Schwarze. Schließlich dreht er sich wieder zu der Krankenschwester um. »Wann fängst du denn an?«, fragt er.
    Sie grinst. »Ich bin schon längst fertig.«
    Carls Mutter sieht mich sichtlich erleichtert an. »Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen ja so sehr …«
    »Kein Problem«, sage ich. »Carl, danke, dass du mit mir gesungen hast.«
    Kaum habe ich das Zimmer verlassen und biege um die Ecke, da läuft eine andere Krankenschwester auf mich zu. »Ich habe Sie überall gesucht«, sagt sie. »Es geht um Marisa.«
    Mehr braucht sie nicht zu sagen. Marisa ist eine Dreijährige, die seit einem Jahr immer wieder wegen Leukämie im Krankenhaus behandelt werden muss. Ihr Vater, ein Bluegrass-Musiker, findet es wunderbar, dass seine Tochter Musiktherapie macht, denn er weiß, wie viel Musik einem Menschen geben kann. Manchmal, wenn ich in ihr Zimmer komme, ist sie wach und glücklich, und wir singen ihre Lieblingslieder: Old MacDonald und My Bonnie lies over the Ocean . Manchmal komme ich aber auch zu ihr, wenn sie gerade eine Chemotherapie hinter sich hat, und sie hat das Gefühl, als würden ihre Hände brennen. Dann erfinde ich Lieder, in denen es darum geht, wie sie die Hände in Eiswasser tunkt oder wie es ist, einen Iglu zu bauen. In letzter Zeit war Marisa jedoch so krank, dass ihre Familie und ich ihr einfach nur vorgesungen haben, während sie von Medikamenten benebelt geschlafen hat.
    »Ihr Arzt sagt, dass es in der nächsten Stunde so weit ist«, flüstert die Krankenschwester mir zu.
    Leise öffne ich die Tür zu Marisas Zimmer. Das Licht ist aus, und die grauen Strahlen der Spätnachmittagssonne fangen sich in den Falten der Krankenhausdecke, unter der das kleine Mädchen liegt. Sie rührt sich nicht und ist kreideblass. Eine rosafarbene Strickmütze bedeckt ihren kahlen Kopf, und sie hat silbern glitzernden Nagellack auf den winzigen Fingern. Ich war letzte Woche dabei, als Marisas große Schwester ihn aufgetragen hat. Wir haben Girls Just Wanna Have Fun gesungen, obwohl Marisa die ganze Zeit über geschlafen hat.
    Marisas Mutter weint leise in den Armen ihres Mannes. »Michael, Louisa«, sage ich, »es tut mir ja so

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