Ein Lied über der Stadt
schon da, und dein Vater kommt sofort.«
Luise rannte die Treppen hinauf zum Bad. Früher hatten sie eine Zugehfrau gehabt, die auch kochte. Sie schüttelte sich innerlich, wenn sie daran zurückdachte. Graupen. Erbsensuppe. Kohlrouladen, obwohl Papa doch kein Fleisch aß. Als Kind hatte es sie oft gegraust, mittags von der Schule nach Hause zu gehen, weil das Essen so schrecklich war. Aber seit Paul aus Brasilien zurückgekommen war, kochte Luana. Sie zahlten keine Miete, doch Papa hatte es beim Dekanat irgendwie erreicht, dass Paul und Luana trotzdem im Pfarrhaus wohnen bleiben konnten. Und so kochte Luana für sie alle. Und sie kochte gerne, das merkte man. Im Winter war sie oft traurig, weil alles so viel düsterer als in ihrer Heimat und das Haus so kalt war. Nicht einmal Paul konnte sie dann zum Lachen bringen. Nur wenn sie in der Küche stand und manchmal mitten im Januar aus einem Glas Erdbeermarmelade und irgendwelchen besonderen Gewürzen, die sie alle paar Monate aus ihrer Heimat geschickt bekam, ein Gericht kochte, aus dem man den Sommer schmecken konnte, dann lächelte sie immerhin. Aber jetzt war Sommer, und Luana sang und lachte fast jeden Tag.
»Vater, wir leben von deinen Gaben. Segne das Haus, segne das Brot. Gib uns die Kraft, von dem, was wir haben, denen zu geben in Hunger und Not.«
Papa betete nie mechanisch. Er überlegte immer, bevor er anfing, selbst wenn es alte Gebete waren. Luise mochte das an ihm. Er war so ganz in allen Dingen, die er tat. Paul murmelte mit. Luana hatte die Hände nicht gefaltet, sondern locker in den Schoß gelegt, aber sie bekreuzigte sich nach dem Gebet. Sie war ja katholisch.
Es gab Vatapá . Eins war ganz klar, dachte Luise, als sie sich aus der Schüssel auftat, in der ganzen Stadt wurde das nirgends sonst gegessen. Sie mochte fast alles, was Luana kochte, aber Vatapá besonders. Und das Beste war, dass es aus altem Brot gemacht wurde. Nur die Kokosnüsse waren teuer. Undiplomatisch, wie ihr Vater sich manchmal verhielt, hatte er einmal bei Tisch gemeint, dass Kokosnüsse sehr viel kosteten und ob man nicht darauf verzichten könne. Da war Luana wortlos vom Tisch aufgestanden und hatte eine Woche lang nicht mehr mit ihnen gegessen. Papa hatte dann zweimal versucht, etwas zu kochen, aber außer dem General hatte das keiner essen wollen, nicht einmal er selbst. Seitdem wurde kein Wort mehr über die Zutaten verloren, die Luana einkaufte.
Es gab eine scharfe Soße dazu. Als Luise sie das erste Mal probiert hatte, war sie in die Küche gerannt und hatte sie in den Ausguss gespuckt, weil sie dachte, es sei irgendetwas Giftiges. Paul hatte sie ausgelacht. Aber jetzt mochte sie das Scharfe. Vatapá war ein bisschen wie Kartoffelbrei, nur tausendmal feiner. Koriander war darin und Zitronen und Knoblauch und noch einiges, was sie nicht benennen konnte. Sie aß hastig.
»Luise!«, mahnte ihr Vater, »du isst wie ein Wolf.«
»Ich bin auch genauso hungrig«, antwortete sie.
Paul lächelte schweigend. Er sprach selten bei Tisch. Um ihn war oft eine schwebende Traurigkeit, die machte, dass man ihn am liebsten an sich gedrückt hätte, aber er war bei aller Freundlichkeit ganz unnahbar. Einmal hatte er mit einer gewissen Bitterkeit gesagt, das einzig Gute, das es in Brasilien gegeben habe, sei Luana. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er in Brasilien keinen Erfolg gehabt hatte und zurückkehren musste. Nur sehr selten erzählte er von seiner Farm in Brasilien, wo er Kautschuk hatte anbauen wollen. Andererseits war ihr Paul, schon als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, immer ernst vorgekommen.
»Ist Brasilien nicht schön?«, hatte Luise da gefragt.
Paul hatte lange überlegt und dann zögernd geantwortet: »Doch. Es ist sogar manchmal wunderschön. Aber es ist nicht … es ist ein Land, das dir nichts verzeiht. Es ist nicht die Heimat. Wenn du dort stolperst, hilft dir keiner auf. Es ist nicht so wie hier.«
Luise verstand nur halb, was er meinte. Durch Luanas Lieder und ihre Erzählungen blieb Brasilien für sie ein Land der Schönheit und der Sehnsucht. Was sie verstand, war, dass Paul weggegangen war, um etwas zu suchen, und dass er es nicht gefunden hatte.
Luise sah ihm kurz zu, wie er seine Vatapá aß. Ein bisschen mechanisch und ohne Freude am Geschmack. Vielleicht lag der Grund, dass er traurig war, nicht darin, dass er zurückkommen musste. Sondern dass das Zurückkommen war, als habe man zugeben müssen, dass man in der Ferne nicht finden
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