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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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in der hintersten Kirchenbank und versuchte, an andere Dinge zu denken, während ihr Vater predigte. Paul saß weiter vorne, auf der rechten Seite. In dieser kleinen Stadt war es wie auf dem Land – Männer saßen auf der rechten, Frauen auf der linken Seite, getrennt durch den Mittelgang. Nur der Chor auf der Empore war gemischt. Luises Vater hatte das am Anfang sehr eigenartig gefunden. Er kam aus München, wenn auch aus einer sehr kleinen protestantischen Gemeinde, aber da waren die Sitten längst anders. Nur hier in Franken war es wohl immer noch so wie im 19. Jahrhundert.
    Luise sah mit leiser Verachtung auf das kleine Meer von blauen und schwarzen Kopftüchern, das sich vor ihr bis zur Kanzel erstreckte. Alles war so klein, so festgefahren und so alt. Neben ihr saßen Elisabeth und Eva, die Tochter des Mesners, die so ganz anders war als er. Die beiden steckten immer wieder wispernd die Köpfe zusammen, deuteten mit Blicken auf diesen oder jenen jungen Mann in den Bänken zur Rechten, stießen sich an und lachten dann lautlos. Luise, die sonst manchmal nicht weniger respektlos war, hatte keine Lust zu lachen. Heute hätte sie gerne Luana neben sich gehabt, aber die ging jeden Sonntag in die kleine katholische Kapelle auf der anderen Seite der Stadt.
    Es war ein diesiger Tag. Schon jetzt, am Morgen, war die Luft drückend und schwül. Die Kirchenfenster im Chor strahlten nicht wie an klaren Tagen, sondern leuchteten in dumpferen Farben als sonst. Es würde ein Gewitter geben.
    Papa war auf die Kanzel gestiegen und hielt, wie immer, kurz inne, während er seinen Blick über die Gemeinde schweifen ließ. Luise sah aus dem Fenster. Dann las er den Psalm, über den er predigen würde. Luise hörte nur Bruchstücke.
    »… du wollest mich aus dem Netz befreien, das sie mir gestellt haben … du stellst meine Füße auf weiten Raum.«
    Ja, dachte Luise bitter, das tut er eben nicht.
    Nach dem Verlesen des Psalms machte ihr Vater noch einmal eine kurze Pause und suchte Luises Blick. Sie sah wieder weg, bis er begann.
    »Freiheit«, sagte er, »den freien Raum, auf den Gott einen stellt, ihn kann es nur geben, wenn man auch stehen kann. Und Stehen lernen bedeutet, sich einer Disziplin zu unterwerfen.«
    Luise beobachtete den Mesner, der leicht gebeugt auf seinem besonderen Schemel neben der Sakristei saß und zustimmend nickte. Sie verdrehte die Augen. Hoffentlich sah Papa das. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen, aber das traute sie sich doch nicht. Die ganze Predigt hörte sich so an, als sei sie auf sie gemünzt, auch wenn ihr Vater ihr keinen Blick mehr zuwarf.
    Du stellst meine Füße auf weiten Raum , dachte sie spöttisch. Bestimmt nicht! Das brauche ich nicht. Das kann ich selber, wenn du es nicht tun willst.
    Erst jetzt bemerkte sie überrascht Georg auf der anderen Seite. Er ging normalerweise nicht zur Kirche. Sie hatten sich schon oft darüber lustig gemacht: der atheistische Sozialdemokrat und die Pfarrerstochter mit ihrem gemeinsamen Geheimnis. Er saß etwa in der Mitte unterhalb des langen Südfensters, das tief in die meterdicke Wand geschnitten war. Er hatte wohl schon öfter zu ihr herübergesehen, denn als er jetzt endlich ihren Blick gefangen hatte, lächelte er unvermittelt und froh und hob sogar kurz die Hand zu einem lautlosen Gruß.
    Ach Georg, dachte Luise mit plötzlichem schlechtem Gewissen. Ihm hatte sie nie etwas davon erzählt, dass sie vielleicht nach München musste. Sie hatte es genauso lang vor sich hergeschoben wie das Gespräch mit Papa. Aber so war es: Sie konnte schon wegen Georg nicht weg. Zögernd hob sie die Hand ganz kurz zu einem Gegengruß und sah, wie er sich glücklich wieder dem Gesangbuch zuwandte.
    Elisabeth hatte den Blickwechsel bemerkt, stieß Luise mit fragend-spöttischem Gesichtsausdruck an und machte eine vieldeutige Kopfbewegung in Richtung Georg. Luise verstand, was sie meinte, und schüttelte den Kopf, obwohl sie wusste, dass Elisabeth niemals begreifen würde, was da zwischen Georg und ihr war, weil sie gar nicht glaubte, dass es so etwas wie eine Kameradschaft zwischen Männern und Frauen geben konnte.
    Die Glocke läutete zum Vaterunser, und alle standen auf.
    Ihr Vater sprach den Segen. Wie es wohl war, dachte Luise gegen ihren Willen, auch seine Tochter segnen zu müssen, mit der man gerade Streit hatte? Sie war froh, dass sie so weit hinten saß; so konnte sie aus der Kirche schlüpfen, bevor ihr Vater an der Tür war, um, wie es die

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