Ein Lied über der Stadt
Geste völliger Verständnislosigkeit. Zunehmend ereiferte er sich: »Du bist noch kein einziges Mal in deinem Leben geflogen. Du weißt nicht einmal, wie das ist. Aber nicht zur Universität wollen! Weißt du, wie viele Mädchen in Bayern Abitur machen? Wie viele studieren können?«
»Ja, aber was denn auch?«, schlug Luise zurück, »Medizin oder Lehramt oder so. Das will ich nicht.«
»Darum geht es nicht«, antwortete ihr Vater scharf, »es geht darum, dass die Grundlagen geschaffen werden. Du weißt gar nicht, wie gut es dir geht, dass du diese Möglichkeit hast. Und auch wenn du das nicht verstehst, ändert das nichts daran, dass du es deiner Mutter schuldest.«
Luise war zornig aufgestanden.
»Ich schulde meiner Mutter gar nichts!«, rief sie mit vor Wut bebender Stimme. »Ich kann mich ja nicht mal an sie erinnern!«
Ihr Vater sprang auf, und für einen Augenblick dachte Luise, er würde sie ohrfeigen, aber er beherrschte sich.
»Ich schon«, sagte er dann in einem Ton zwischen großer Wut und großer Trauer. Einen Augenblick lang tat Luise ihr Vater leid, aber sie konnte nicht anders, als immer noch wütend zu sagen: »Ich gehe nicht nach München!«
Dann stürmte sie aus dem Zimmer, aber ihr Vater rief ihr hinterher: »Du wirst nach München gehen! Ob du willst oder nicht! Du gehst nach München!«
Luise war in ihr Zimmer gerannt, stand jetzt zitternd am Fenster und sah zornig hinaus. Hinter ihr, an der Wand über ihrem Bett, hingen all die Zeitungsausschnitte mit Berichten über Ernst Udet und Baron von Richthofen, mit den Flugzeugen von Melli Beese, Charlotte Möhring und Thea Rasche. Der Garten lag unter ihr, grün und sommerlich und voller Farben und Düfte, aber sie nahm alles nur am Rande wahr. Sie konnte nicht fort von hier. Es war ja nicht, dass sie Angst vor dem Fremden gehabt hätte. Nicht ein bisschen. Aber hier war Georg! Und ihr Flugzeug. Doch als sie dann an das Skelett dachte, das sie heute Morgen in der Scheune zurückgelassen hatte, war es, als sähe sie auf einmal alles durch die Augen ihres Vaters. Auf einmal kam ihr das Ganze völlig verrückt vor. Wie konnte sie glauben, ein richtiges Flugzeug bauen zu können? Sie war ein Mädchen; noch nicht einmal achtzehn Jahre alt. Sie war noch nie geflogen. Sie hatten keinen Motor für ihr Flugzeug und würden sich nie einen leisten können. Auf einmal konnte sie den Anblick des hohen Sommerhimmels mit diesen wenigen leichten Sommerwolken nicht mehr ertragen. Sie drehte dem Fenster den Rücken zu und starrte in ihr Zimmer. Auf dem Nachttisch stand das Hochzeitsfoto ihrer Eltern. Luise ging die paar Schritte zu ihrem Bett, nahm es auf und sah es an. Es stimmte nicht, dass sie sich nicht an ihre Mutter erinnern konnte. Sie hatte das nur so gesagt, um ihren Vater zu verletzen. Jetzt verachtete sie sich dafür. Sie konnte sich sogar an viele Dinge erinnern. An Augenblicke im Zoo; sie in einem blauen Spielkleidchen und ihre Mutter in einem hellen Sommermantel. Sie abends im Bett, und Mama las ein Osterhasenbuch vor, das sie heute noch hatte. Sie in Mamas Untersuchungszimmer und das kalte Gefühl des Stethoskops auf der Brust, und dann das Geräusch ihres eigenen Herzens, als ihre Mutter sie hören ließ.
Plötzlich kamen ihr die Tränen. Es war gar nicht so die Sehnsucht nach Mama. Das alles war schon so lange her. Aber vielleicht war einfach alles falsch, was sie da tat und dachte. Lautlos und im Stehen weinte sie. Draußen, hoch über der Stadt, zwitscherte eine Lerche. Vielleicht hörte sie sie zum letzten Mal in diesem Jahr – im Sommer sangen Lerchen nicht mehr. Lerchen, dachte sie voll wilder Trauer. Lerchen waren die einzigen Vögel, die nur im Flug sangen. Luise spürte die Tränen von ihrem Gesicht tropfen, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen. Und dann hörte sie, wie warm und weich, wie die Sommerbrise, die ihre Vorhänge sacht bewegte, Luanas Gesang aus dem Garten in ihr Zimmer stieg.
Nicht, dachte sie fast verzweifelt, jetzt nicht, und sie musste immer weiter weinen, ohne zu schluchzen; herzzerreißend still.
Coração hörte sie, das hieß »Herz«, tristeza und poesía , und das alles schwebend traurig-schön, ein Lied, das von der seltsamen Süße des Aufgebens und Abschiednehmens und Nichtwiederkehrens sprach. Luise weinte, als könne sie nie wieder aufhören.
Unten sang Luana.
Hoch oben, im Sommerblau des Himmels über der Stadt fast unsichtbar, sang die Lerche.
6
Am Sonntag saß sie mit verschlossenem Gesicht
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