Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
immer und immer wieder. Wir haben Landstriche verwüstet, Städte verbrannt, Tausende und Abertausende von Leben genommen. Das Firmament erzitterte vor magischer Kraft. Die Götter mussten es mit der Angst bekommen haben. Und doch wächst ein neuer nach.«
Er schaute hoch.
»Und so wird es auch mit Plothar und seiner Familie sein. Wir können Bell verwüsten. Das Imperium stürzen. Den Hauptmann zum Kaiser machen. Für einen Moment ist dann Ruhe, doch daraufhin … der neue Schädel sprießt hervor.« Selur biss in den Apfel.
Woldan starrte ihn an, dann seufzte er und blickte zu mir.
»Du willst kein Kaiser werden, oder?«
»Alles andere als das. Mich strebt es nicht mehr nach Höherem. Über diese Phase meines Lebens bin ich hinweg. Und du? Lockt dich der Thron?«
Woldan hob abwehrend die Hände. »Der knorrige Stuhl des Dorfschulzen ist mir bereits zu ungemütlich.«
»Siehst du. Also, was uns dann bleibt, ist dies: ein kurzes Gleichgewicht herstellen und dann anfangen, für den Rest unseres Lebens mit den Tellern zu balancieren. Oder wir verkriechen uns in einer Höhle und tun so, als würde uns das alles nichts mehr angehen.«
Ich sah in die Runde.
»Wer ist für Verkriechen?«
Niemand meldete sich. Müde mochte mancher sein, erfüllt auch vom Bedürfnis nach einem Ende, einem Abschluss. Aber feige war keiner.
Ich lehnte mich zurück und sah in das Feuer.
»Selur?«
»Ja, Hauptmann?«
»Hol mir das Kästchen.«
Selurs Blick hellte sich auf.
» Das Kästchen, o mein Hauptmann?«
»Du klingst albern, wenn du salbungsvoll wirst.«
Woldan schaute uns an, dann glitzerte Verstehen in seinen Augen und er begann zu grinsen.
»Ein Gleichgewicht, in der Tat«, murmelte er.
Frederick runzelte die Stirn, doch ehe er seine Frage formulieren konnte, hob ich eine Hand und gemahnte ihn zu schweigen.
»Du wirst es bald erfahren, Kastellan. Es ist nur ein Pfeil im Köcher, und ich muss sorgfältig zielen, um die größte Wirkung zu erzielen.«
Frederick sah mich an und ich erkannte ein Vertrauen in seinem Blick, das ich vorher dort nicht erblickt hatte.
Ah, das Schicksal. Es legte eine weitere Bürde auf meine Schultern.
Einen Mann wie Frederick zu enttäuschen, das durfte ich einfach nicht.
32 Das Netz
Ich ließ mir Zeit, mehr als zwei Monate.
Das war zum einen notwendig, weil ich auch so genug zu tun hatte, und zum anderen, weil ich Dinge vorbereiten musste. Der Sommer war die Jahreszeit, in der alles getan, alles entschieden, alles gebaut und hergerichtet wurde. Wenn das Land aus dem Winterschlaf erwachte, mussten nicht nur die Vorbereitungen für den kommenden Winter getroffen werden, auch war dies die Zeit, in der die Besucher kamen, die Märkte stattfanden, Bauarbeiten durchgeführt wurden. Die Stadtmauer von Tulivar etwa, die während der kalten Zeit nicht erweitert worden war, sollte endlich die ganze Stadt umfassen, und sei es nur in Form einer Holzpalisade. Ich durfte zudem mit großer Freude feststellen, dass die Bevölkerung meines kleinen Fleckens, soweit sie dazu noch in der Lage war, die trüben Nächte des Winters mit allerlei Zeitvertreib gefüllt hatte, der zu einer sichtbaren Erweiterung der Gesamtbevölkerung zu führen schien. Hatte sich die Stadt schon im Jahr zuvor durch die Flüchtlinge aus Felsdom belebt , schien es jetzt an jeder Straßenecke zu schreien und zu jammern, obgleich der Eindruck natürlich täuschte: Letztlich waren nicht mehr als vielleicht zwanzig Kinder geboren worden. Doch es war die veränderte Atmosphäre, ein Gefühl der Erneuerung, des Aufbruchs, die einen diesen Eindruck gewinnen ließ.
Ich war stolz, daran nicht unbeteiligt gewesen zu sein, und ich meinte damit nicht meine eigenen Bemühungen, Nachwuchs in die Welt zu setzen. Es schien mir gelungen zu sein, dieser verstockten, enttäuschten, ja verbitterten Provinz etwas Leben eingehaucht zu haben, gewollt oder ungewollt. Und ich spürte mit jedem Tag, an dem ich dies miterlebte, wie ich weniger bereit wurde, mir diese Errungenschaft von den Levellianern oder irgendjemand anderem fortnehmen zu lassen.
Die Tatsache, dass jetzt tatsächlich signifikante Einnahmen durch das Goldbergwerk zu erwarten waren, half dabei ganz sicher. Die regelmäßigen Berichte des Throcius deuteten darauf hin, dass seine Arbeiter ihrem Tagwerk völlig ungestört nachgehen konnten. Felsdom wuchs wieder und war ein belebtes Grenzdorf, obgleich noch viele Häuser leer standen. Doch das Bergwerk sollte
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