Ein Macho auf Abwegen
in der Glasbox, setzte sich den
Kopfhörer auf, nahm sein Textblatt in die Hand und gab ein Zeichen, das
Playback mit dem bereits dazugemischten Chor, zu starten.
Schon nach den ersten Takten gab es eine eindeutige
Besonderheit im Vergleich zu Webbers Darstellung. Stevens sang den Song mit so
viel Wärme und Gefühl, dass Christina vor lauter Ergriffenheit die Haare am
ganzen Körper zu Berge standen. Irre, wie viel Sexappeal und Sinnlichkeit er in
seiner Stimme hatte, wenn er zwischendurch beinahe in einen Sprechgesang
verfiel! Ihr ging es genauso wie in Barcelona, als er ihr beim Tanzen etwas
zugeflüstert hatte. Er konnte jemanden, zumindest funktionierte es bei
Christina, alleine durch seine Stimme zum Wahnsinn treiben. Es war einfach
wunderbar! Warum wollte er diesen Titel denn überhaupt jemandem anderen
überlassen?
Er kam aus seiner Kabine. Gemeinsam mit dem Tontechniker und
Frankie Webber hörten sie sich die Aufnahme an. „Gefühl, Frankie! Da gehört ’ne
Menge Emotion ’rein! Die Frau, für die du dieses Lied singst, hat unglaublich
ausdrucksvolle Augen. Sie sind wie ein Fenster, durch das du in sie
hineinschauen kannst. Diese Augen kehren ihr Innerstes nach außen, aber sie
versucht sich vor dir zu verstecken. Sie steckt mitten in einem schrecklichen
Dilemma und kann nicht zu dem stehen, was sie fühlt. Sie sagt „Nein“ und meint
eigentlich „Ja“! Sie hat eine Heidenangst vor der Wahrheit. Verstehst du das,
Frankie? Sie hat in erster Linie Angst vor dir und ihren eigenen Gefühlen. Ganz
behutsam bringst du ihr bei, dass du sie durchschaust. Sie soll sich nicht
fürchten. Du willst ihr sagen, dass du ihr Freund bist, mehr nicht!“
Webber nickte bei jedem Satz zustimmend. ‚Na, hoffentlich
hat er auch wirklich kapiert, um was es geht!, wünschte sich Christina, ohne
selber genauer darüber nachzudenken, was Stevens da gerade von sich gegeben
hatte. Sie konzentrierte sich nur auf Webbers Mienenspiel und versuchte dort
abzulesen, ob es bei dem jungen Mann gefunkt hatte.
Webber machte seine Sache jetzt ein wenig besser, aber an
Marcs Interpretation konnte er mit seinem lauen Singsang lange nicht tippen.
Auf dem Nachhauseweg kamen ihr seine Worte aber wieder in
den Sinn. „Haben Sie eigentlich auch den Text für den Titel geschrieben?“
Stevens bejahte kopfnickend. „Ich mache alles selber, Frau Klasen“, klärte er
sie auf. „Musik, Text und die Produktion.“
Christina interessierte das wirklich. „Wie fallen Ihnen Ihre
Texte ein? Ich meine, wie kommen Sie auf die Themen?“
„Man muss einfach nur mit offenen Augen durchs Leben gehen,
Frau Klasen. Mehr braucht es nicht.“ Er sah demonstrativ zu ihr herüber.
„Konzentrieren Sie sich bitte auf den Verkehr, Herr
Stevens!“ Christina fixierte mit ihrem Blick die Fahrbahn. Sie konnte ihn jetzt
nicht ansehen. Ihr ging der Text noch einmal durch den Kopf. Dabei vermochte
sie seine Stimme noch einmal zu hören.
„Du kannst mir nichts erzählen, du kannst mich nicht belügen.
Deine dunklen Augen können mich nicht betrügen.“
Urplötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Meinte
er etwa sie? Hatte sie selbst ihn etwa zu diesem Text inspiriert? Sie wusste,
dass ihre Augen alles preisgaben, was sie dachte. Wusste Stevens das etwa auch
schon? Sollte sie der Adressat für diese Textzeile sein?
„Durch deine Augen sehe ich deinen Schmerz.
Durch deine Augen schaue ich in dein Herz.“
Du liebe Zeit! Warum hatte sie sich ausgerechnet einen
feinfühligen Künstler als Chef ausgesucht? – Ausgesucht ist gut!, dachte sie.
Stevens beobachtete sie, während sie ganz abwesend aus dem
Wagenfenster sah. Sie schien allmählich zu begreifen, wer ihn zu dem Lied
animiert hatte. Doch dabei wollte er es nicht belassen. Sie sollte noch einen
kleinen, zusätzlichen Fingerzeig bekommen.
Als sie in Christinas Straße einbogen, sagte er: „Was halten
Sie davon, Frau Klasen? – Ich werde den Song nicht Frankie singen lassen. Ich
mache ihn lieber selber. Es sind doch schließlich meine Gedanken, von denen das
Lied erzählt.“ Er hielt ihr die Wagentüre auf und hob in Erwartung ihrer
Antwort fragend die Augenbrauen. Christina war vollkommen irritiert und
verunsichert. Stevens erfreute sich an diesem seltenen Ereignis.
Sie stieg aus dem Auto aus. „Ich habe mich vorhin sowieso
schon gewundert, warum Sie diesen Titel jemand anderem abtreten wollen“,
antwortete sie auf seinen Vorschlag. Er drückte ihr eine Musikkassette in die
Hand.
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