Ein Mann will nach oben
langsam, fast unmerklich verrann der sonnige Vorfrühlingstag in Dämmerung und Nacht. Immer noch stand das Gespann am Bahnhof. Die Pferde dösten mit hängenden Köpfen vor sich hin. Karl Siebrecht aber hatte sich gesagt: Wenn auch der Sechsuhrzug mir nichts bringt, fahre ich los.
Der Sechsuhrzug hatte ihm nichts gebracht, aber der Junge fuhr nicht. Er wollte den Achtuhrzug von Warnemünde abwarten, den zweiten Schwedenzug. Er hoffte immer noch. Dann, gegen neun Uhr abends, kam er auf dem Fuhrhof an. Er hatte gedacht, Wagenseil würde um diese Zeit schon fort sein. Aber da war er, in seinen schwarzledernen Gamaschenbeinen wie auf Draht. »Na?« sagte er und streckte dem Jungen die Hand hin. »Wieviel?« Der Junge legte schweigend in die Hand zehn Mark. »Mehr nicht?« fragte Wagenseil.
»Mehr nicht«, antwortete der Junge.
Wenn er nun aber das übliche Gepöbel des Fuhrherrn erwartethatte, so blieb das zu seiner Überraschung aus. Siebrecht konnte nicht wissen, daß der Pferdeknecht, neuerlich von seinem Dienstherrn bestochen, seine Aussage wegen Rizinus und Aloe widerrufen hatte und daß daraufhin eine recht günstige Einigung mit dem Pferdehändler Engelbrecht zustande gekommen war. »Na ja«, meinte Franz Wagenseil und steckte die zehn Mark in die Tasche, »anders haben wir den ersten Tag gar nicht erwartet. Oder –?«
»Nein, anders war es gar nicht zu erwarten«, bestätigte Karl Siebrecht.
»Haben sie dich angepöbelt?«
»Nicht der Rede wert.«
»Haben sie dir einen Possen gespielt?«
»Nicht der Rede wert.«
Wagenseil dachte nach. »Morgen bekommst du ein Paar andere Pferde«, entschied er dann. »Und Sträuße machen wir dir auch ans Geschirr.« Er lachte: »Ich fahre heute nacht noch für die Zentralmarkthalle. Da schaffe ich Blumen an von Firma Klemm und Lange!«
»Kommen nicht an meinen Wagen!« sagte der Junge kurz und war schon gegangen, ehe Franz Wagenseil mit seiner Schimpferei hatte anfangen können.
Dann kam der lange, einsame Abend, ohne Rieke und ohne Kalli …
33. Der zweite Tag – am Tage
Auf dem Küchentisch der Brommen hatte ein dickes, gut in Zeitungspapier eingeschlagenes Stullenpaket gelegen. »Hat der Kalli abgegeben«, berichtete die Brommen, »und ’nen schönen Jruß von die Rieke. Seid ihr also doch nich auseinander?«
»Von was reden Sie eigentlich?« hatte Karl Siebrecht grob geantwortet, aber ihm war gar nicht grob zumute gewesen. Einen Augenblick erwog er, gleich zu Rieke hinüberzugehen und ihr zu danken, vielleicht erwartete sie ihn. Aber dann hober es doch lieber für den Abend auf. Er wollte unbedingt zur Zeit am Stettiner halten, heute mußte es anders gehen –!
Es war gut, daß er früh auf den Fuhrhof kam, zuerst sah es ganz so aus, als solle es heute überhaupt kein Gespann für ihn geben. Franz Wagenseil war völlig gekränkte Leberwurst, war auf eine Art kurz und schnippisch, die dem großen Mann sehr komisch zu Gesicht stand. »Ist dir ja alles nicht gut genug, was ich für dich tue«, sagte er gekränkt. »Ach was, Pferde, solche Pferde, wie du brauchst, habe ich gar keine. Geh mal bei S. M. in den Marstall, da findest du welche!«
»Sei bloß nicht albern«, sagte Karl Siebrecht.
»Ich albern! Du alberner Affe!« schrie Wagenseil. »Wenn ich mal ’ne gute Reklameidee habe, dann ist das albern. Mach dir doch deinen Dreck alleine! Bring lieber Geld, verstehst du? Und du verlangst, ich soll Geld für Blumen ausgeben? Du lächerst mich ja!«
»Du mich auch, Franz!« sagte Karl Siebrecht.
Schließlich bekam er den genesenen, aber noch schonungsbedürftigen Rappen, den er sich erst putzen mußte, und einen reichlich pflastermüden Belgier, rotblond, ein Gespann, das gar nicht paßte. Als aber Karl Siebrecht darauf aufmerksam machte, schrie Wagenseil sofort: »Morgen kriegst du überhaupt nur einen Gaul! Mein Geld spazierenfahren, das möchtest du!«
»Es ist aber meines, Franz!« lachte Karl Siebrecht und fuhr ab.
Sieben Minuten vor zehn hielt er am Bahnhof. Die Dienstmänner waren schon da. Auch der eine, der bewußte. Karl Siebrecht überlegte, ob er schon jetzt mit ihm abrechnen sollte, aber er ließ es. Er war noch zu guter Stimmung, um sich zu krachen. Die Luft war diesig. Die Sonne hatte noch nicht den Dunst über der Stadt durchbrechen können, aber sie würde schon noch kommen, leider. Aber trotzdem würde es heute anders und besser gehen, Karl fühlte es. Er strängte seine Pferde ab. »Na, Karle?« fragte Opa Küraß. Er war auf seinen
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