Ein Mann will nach oben
Augenblick war Siebrecht versucht, den Opa anzurufen und ihm den Taler zurückzugeben. Aber er überlegte es sich anders. Großmütig darf man nur zu einem großmütigen Feind sein, ein kleinlicher Feind hält Großmut immer für Schwäche. Nun endlich kam sein kleinlichster Feind. Karl hatte schon gefürchtet, der habe eine Fuhre in anderer Richtung, etwa zum Schlesischen oder zum Görlitzer Bahnhof. Aber da kam er, und nicht umsonst kam der Dienstmann 13, Kiesow, so spät: seine Karre war hochgetürmt mit Koffern bepackt! Mit Stricken hatte er sie noch festschnüren müssen, die Karre ächzte und krächzte. Und dabei hatte es der Mann auch noch eilig, lang lag er im Gurt, schon jetzt war sein Gesicht gerötet … Ohne aufzusehen, zog Kiesow an Karl Siebrecht vorüber, und »Hüa!« sagte der. Die Pferde gingen los, direkt hinter der Karre ließ Karl Siebrecht sie gehen, so nahe hinter der Karre, daß ihre Nasen fast an die Koffer rührten. Nun stieß die Deichsel – ganz sanft – an den Karren an.
Ein Dienstmann ist es gewöhnt, im Großstadtverkehr zu fahren, kleine Zusammenstöße sind da unvermeidlich. Man schimpft, wenn man Zeit hat, oder zieht schneller, wenn man eilig ist. Kiesow, der den Stoß und Schub gespürt hatte, wandte weiterziehend den Kopf zurück, ein Fluchwort gegen den Unachtsamen auf den Lippen. Sein Blick begegnete dem von Karl Siebrecht. Der sah ihn, hoch über dem Dienstmannthronend, hell und spöttisch an. Die Peitschenschmitze nickte an ihrer Schnur.
Kiesow schloß den Mund, er hatte es eilig, er war schon spät daran. Dieses Jüngelchen würde er sich nachher kaufen. Er legte sich stärker in den Gurt, um aus der Nähe des Feindes zu kommen.
Eine Kleinigkeit schneller ließ Siebrecht seine Pferde gehen. Was für den Dienstmann eine schwere Anstrengung war, für die Gäule war es Spielerei: wieder nickten ihre Nasen über den Koffern, und wieder stieß die Deichsel gegen den Karren. Als das zum dritten Mal geschah, wandte der gehetzte Dienstmann den Kopf zurück: »Vadammt noch mal, paß doch auf!« schrie er.
»Verdammt noch mal! Ich paß ja grade auf!« schrie Karl Siebrecht zurück. Und der Dienstmann, der vorwärts mußte, der seinen Zug nicht versäumen durfte, legte sich wortlos in seinen Gurt, vor Wut vergehend.
Sie waren nun am Neuen Tor, an jener Stelle, wo es einen ersten Zusammenstoß gegeben hatte, wo Karl Siebrecht sein herrenloses Gespann mit dem feige beschmutzten Schild gefunden hatte. Kiesow warf einen zweifelnden Blick auf den Schutzmann. Es war derselbe Blaue wie gestern, gerne wäre er ihn um Hilfe angegangen. Aber was sollte er sagen – und gerade diesem Blauen? Er zog rasch in einem Viertelkreis an ihm vorbei, zwischen den beiden Torhäuschen durch, der Luisenstraße zu. Karl Siebrecht atmete auf. Der Feind fuhr nicht zum Lehrter Bahnhof, der nur noch ein paar Schritt entfernt lag, er fuhr zum Potsdamer oder Anhalter, einen weiten Weg, auf dem er gepeinigt werden konnte. Und wie würde er ihn peinigen … Er setzte seine Pferde in Trab. Mit der Peitsche grüßte er: »Morgen, Herr Wachtmeister!« Der Schutzmann sah auf, erkannte ihn, nickte kurz.
An Kiesow vorbei fuhr Karl Siebrecht. Er sah das wütende, gehetzte Gesicht des anderen, das sich entspannte, als er den Jungen vorüberfahren sah. Aber, kaum an Kiesow vorbei, ließ Karl Siebrecht die Pferde wieder im Schritt gehen. Er fuhr nunvor Kiesow her, erst noch in einigem Abstand … Aber seine Pferde krochen. Ach, wie sie krochen – die reinen Schnecken! Rasch kam der Moment, da der Dienstmann 13 fast gegen die Hinterwand des Rollwagens stieß, da er langsam ziehen mußte. Noch langsamer. Und die Zeit drängte, der Zug fuhr, das Gepäck mußte abgefertigt werden, der Bahnhof war noch weit …
Siebrecht sah sich nicht um, aber ihm war, als fühle er die Blicke des Verzweifelnden in seinem Rücken, er fuhr noch langsamer. Dann, ohne den Kopf zu drehen, gewissermaßen nur im Augenwinkel, sah er, daß der Dienstmann Anstalten machte, ihn zu überholen. Er ließ ihn fast bis an die Pferde kommen, dann bog er in einem spitzen Winkel auf die Fahrbahn aus, den Geleisen zu, und eingekeilt zwischen dem massigen Rollwagen und einer anfahrenden Elektrischen, blieb dem Dienstmann nichts, als zurückzufallen, wieder hinter den Rollwagen zu kriechen, zu schleichen, wo er laufen wollte, den unerreichbaren Rücken des Jungen anzustarren, vorne hoch vor sich. So ging es die ganze Luisenstraße hinunter. Es gab kein
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