Ein Mann will nach oben
alles an? Was hatte er mit diesen Häusern und Menschen zu tun? Mochten sie glücklich sein, mochten sie weinen, er wußte nichts von ihnen, er gehörte nicht mehr dazu!
Tief aufatmend stand er vor dem Haus des Vaters still. Er sah es lange an, es war frisch verputzt und rosa getüncht, es sah fremd und vertraut aus. Hinter jenem Fenster gleich neben dem Eingang hatte der Vater sein kleines Büro gehabt – wie oft hatte er den versorgten, so früh gealterten Kopf dort über Rechnungen gebeugt gesehen, wenn er aus der Schule gekommen war! Jetzt hing dort ein messingblankes Vogelbauer, er hörte den Kanarienvogelsingen … Ein kleines Schild war an der Tür, er ging hin, um zu sehen, wer jetzt in dem Hause wohnte. »Fritz Gelsen, Prozeßagent« stand darauf. Er kannte keinen Gelsen – der Mann mußte erst nach seiner Zeit zugezogen sein, und nun war es doch so, daß diesem Neuen das Haus wirklich gehörte, aber er, der es in sich hatte, besaß es nicht! Wenn ich einmal viel Geld habe, werde ich mir das Haus kaufen, dachte er. Und ganz schnell: Nein, nur nicht! Was geht mich das Haus an! Er ging schnell hinten herum und spähte in den Garten. Der Garten war leer, er hätte ungehindert eintreten können, aber er zögerte. Die alten Obstbäume waren abgehauen, auch die mit Buchsbaum eingefaßten Blumenrabatten waren verschwunden. Und dahinten – ach, auch der Geräteschuppen an der Mauer, in dem er ein paar selige, verwirrte Minuten erlebt hatte, war fort. Niedergerissen, keine Spur mehr von ihm – jetzt waren Mohrrübenbeete dort. Alles vertraut und doch fremd geworden! Alles verwandelt, gleich und verwandelt, wie er derselbe und doch verwandelt war. Er warf nur einen raschen Blick auf die Hinterfront des Pastorenhauses – dies sparte er sich für den Schluß auf –, dann ging er eilig.
Er stand auf dem Kirchhof. Hier waren die Gräber von Vater und Mutter. Auf dem Stein stand jetzt auch: »Hermann Siebrecht, gestorben am 11. November 1909« – das hatte die alte Minna besorgt. Beide Gräber waren jetzt dicht mit Efeu übersponnen, man sah nichts mehr davon, daß sechzehn Jahre zwischen dem Todestag von Mutter und Vater lagen – so völlig gleich waren sie sich geworden. Und in seinen Ohren klangen noch die Worte des Pastors Wedekind: »Staub zu Staub! Asche zu Asche! Erde zu Erde!« Unwillkürlich sah er zu jenem Grabstein hinüber, hinter dem damals die Jugendfreundin gestanden hatte. Dann fiel ihm die Aster ein, die er aus des Vaters Gruft herausgeholt hatte. Er griff nach seiner Brust, er lächelte unbestimmt. Wo war die Aster? Er trug sie nicht mehr bei sich auf dem Herzen, er hatte sie verloren, er wußte nicht einmal wann! Vorbei! Vorbei! Was sollte er noch hier? Auch hier war seine Jugend nicht, er hatte sie auch hiernicht wiedergefunden, wenn sie noch irgendwo war, so bei der alten Minna, die ihn aufgezogen hatte, die seine getreueste Freundin gewesen war – dieses alte Mädchen mit seinem trockenen unbeweglichen Holzgesicht. Er mußte zu Minna.
55. Die alte Minna
Als er auf den Hof kam, trat sie aus dem Stall, einen Vieheimer in der Hand. Sie blinzelte den Städter einen Augenblick mißtrauisch an, dann wischte sie die Hand an der blauen Schürze ab, hielt sie ihm hin und sagte: »Da bist du ja, Karl! Mächtig fein siehst du aus! Aber ich muß jetzt wohl Sie zu dir sagen!«
Er schüttelte ihr aufgeregt die Hand. »Ach, Minna!« rief er. »Warum sollst du Sie zu mir sagen?! Freust du dich denn gar nicht, daß ich dich mal besuche? Sag, freust du dich?«
»Doch! Doch!« sagte sie und sah ihn prüfend an. »Geben sie dir in der Stadt gar nichts zu essen? Mächtig mager siehst du aus!«
»Ich habe tüchtig zu arbeiten, Minna, davon kommt die Magerkeit. Zu essen bekomme ich schon genug.«
»Ach, so ’n Stadtessen!« sagte sie verächtlich. »Wart mal ’nen Augenblick!« Sie schurrte ins Haus. Ihr Rücken war rund und krumm geworden, ihre Hände ganz hart. So grau war ihr Haar doch früher nicht gewesen?
Er mußte eine ganze Weile auf dem Hof warten, bis sie zurückkam. »Denn komm mal rein!« sagte sie. »Wir haben schon gegessen, aber ich mache dir ein Rührei mit Bratkartoffeln und Speck. Das hast du doch früher so gern gemocht.«
In der Küche mußte er Minnas Schwägerin die Hand geben. Die Frau sah ihn nur kurz und fast feindlich an, Minnas Bruder war nicht zu sehen. Er wurde in die gute Stube geführt und mußte sich auf das Wachstuchsofa setzen. In der Küche nebenan hörte er die
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