Ein Mann will nach oben
meinetwillen. Es ist nicht deswegen. Sondern du mußt aus diesem Grübeln und vergeblichen Hoffen heraus. Du mußt ein ganz neues Leben anfangen, Rieke, noch einmal von vorne. Du mußt was zu tun haben, was du eben tun
mußt,
Rieke. Vielleicht bekommen wir bald ein Kind …«
Jetzt hebt sie den Kopf und sieht ihn von unten her an. »Een Kind?« fragt sie. »Wozu? For det Elend?«
»Aber das Elend ist nicht ewig, Rieke! Es war einmal nicht, und es werden Zeiten kommen, wo es nicht mehr sein wird! – Nein, bis Weihnachten warte ich noch, und dann heiraten wir, Rieke. Länger sehe ich mir das nicht mehr an. Ich habe dein Versprechen.«
»Det haste!« sagt sie. Und: »Noch zweeundzwanzig Tage …«
Er will etwas erwidern, aber er besinnt sich. Er zieht langsam seine Fahrerhandschuhe an. »Gleich sechse!« sagt er. »Zeit für die Theaterfuhren. Ich zieh denn ab, Rieke.« Mit erhobener Stimme: »Ich gehe jetzt, Rieke, hörst du?«
»Ja doch, Kalli!« Sie hebt den Kopf und versucht, ihn mutig anzusehen. »Hals und Beinbruch, Kalli! Und een reicher Ausländer, der dir ’nen Dollar Trinkgeld schenkt!«
»Könnten wir brauchen, Rieke. – Hör mal, Rieke, willst du dir nicht Mühe geben, heute noch das rote Kleid fertigzumachen?«
»Ja, Kalli.«
»Komm, setz dich gleich an die Maschine, die Ägidi ist sicher schon fünfmal deswegen hiergewesen.«
Sie hat sich gehorsam an die Maschine gesetzt. »Schon zehnmal, fuffzehnmal! Du hast recht, es is ’ne Affenschande mit mir, Kalli!«
Er nickt ihr freundlich zu. »Näh gleich los, Rieke!« sagt er. »Wenn ich weggehe, möchte ich deine Maschine schnurren hören.«
»Na, schön, Kalli …« antwortet sie und fängt an zu treten.
Er sieht ihr einen Augenblick zu, dann entfernt er sich auf Zehenspitzen und schließt die Tür so leise, daß sie sein Gehen nicht merkt. Aber sie denkt wohl schon nicht mehr an ihn. Sie näht noch, aber sie näht immer langsamer. Die Pausen dazwischen werden immer größer. Dann greift sie auf den Tisch hinter sich und nimmt ein Stück Schneiderkreide. Sie fängt an, Strich um Strich vor sich auf die Maschine zu malen. Sie zählt sie nach, sie nickt. »Zweeundzwanzig«, sagt sie laut. Nun fängt sie an, die Striche einen um den andern mit dem Finger auszulöschen, erst schnell, dann immer langsamer … Als der letzte Strich ausgelöscht ist, sagt sie halblaut in die leere Stube hinter sich: »Zweeundzwanzig – det is ville zu kurz, Kalli, det kann ick nicht. Jibste noch eenen Monat zu, wat?« Sie horcht, dann, als keine Antwort kommt, dreht sie sich um. Sie sieht, daß sie allein ist, mutterseelenallein. »Kalli …« sagt sie noch hilflos. »Karle …« Dann wirft sie den Kopf vornüber auf die Maschine, sie verbirgt ihr Gesicht in dem roten Kleid der Ägidi. Sie weint hoffnungslos.
60. Der Kriegsgefangene
Der Zug ächzt und stöhnt gegen den Winterwind an, er klappert und knirscht. Nach jedem Halt setzt er sich nur mühsam wieder in Bewegung, als sei es nun mit all seiner Kraft endgültig zu Ende.
Der Winterwind pfeift durch den Gang des fahrenden Zuges, viele Scheiben sind zerbrochen, aber der Mann hält den Beobachtungsposten, auf dem er doch nichts sieht, fest. Es ekelt ihn, in sein Abteil zurückzukehren, wo sie schon seit Stunden nur von Politik schwätzen, von Unabhängigen und Kommunisten, vom Friedensvertrag und Lebensmittelwucher, von Schiebern, Scheidemann und Noske – er weiß von all den Dingen nichts, und er will von ihnen allen auch nichts wissen. Er hat sich seine Rückkehr in die Heimat anders gedacht, der Karl Siebrecht. Nun ist alles grau, dunkel, trostlos. Er hört sie bis auf den Gang hinaus schreien und sich beschimpfen. Es sind Schiffbrüchige, sie liegen im Wasser, und mit seiner letzten Kraft wirft jeder dem anderen die Schuld am Schiffbruch vor! Sie ekeln ihn.
Er fährt mit der Hand zum Kopf. Die Narbe brennt und sticht, wie sie es schon seit langem nicht mehr getan hat. Er hat sich seine Heimkehr doch anders gedacht, trotzdem er ja erfahren hatte, daß der Krieg verloren war. Immer, wenn er an die Heimat gedacht hatte in der letzten Zeit, seit er wieder denken konnte, war sie ihm ähnlich erschienen, wie er sie im Sommer 1914 verlassen hatte: voller Kraft und Freude, etwas Sauberes und Geordnetes, dem man vertrauen konnte. Und nun, was fand er nun? Verdreckt und verkommen, ächzend und verzweifelt, jede Sekunde vor dem Steckenbleiben, schien sie diesem Zug zu ähneln, der ihn in immer tieferes Dunkel
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