Ein Mann will nach oben
sich dort dicht an dicht aufgebaut hat aus echten und falschen Kriegsverletzten, aus Schiebern, Betrügern, Weibern. Er sieht nur einen kleinen Laden in der Eichendorffstraße, er meint, die Palude müßte darin sitzen, und hinten in der Schneiderstube geht dieMaschine … Ach, wäre er doch erst in der Schneiderstube! Er geht immer langsamer, er ist kaum noch ein paar Minuten von seinem Ziel entfernt. In ein paar Minuten wird er wissen. Aber was wird er wissen –? Ihm ist angst. Nicht langsam genug kann er gehen …
Das rote Kleid liegt immer noch ungenäht auf der Maschine. Rieke sitzt, wo sie vor drei Stunden gesessen. Auf dem Tisch stehen noch immer Teller und Schüssel, sie hat die Hände schlaff und tatenlos im Schoß. Sie grübelt. Sie grübelt über das, worüber sie seit Jahren grübelt … Plötzlich fährt sie erschauernd zusammen. Es ist so kalt in der Stube … Oder war da ein Gesicht am Fenster –? Es sind öfter Gesichter am Fenster von neugierigen Betrunkenen, darum erschauert sie doch nicht. »Ja –?« fragt sie tonlos gegen das Fenster. Die meisten Scheiben sind schwarz und glanzlos, in einigen wenigen fängt sich das Licht von der Straße oder von drinnen. Aber kein Gesicht ist zu sehen. »Ja –?« fragt Rieke wieder, noch leiser.
Sie steht auf. Sie fühlt es in ihrem Herzen, daß jetzt die Minute gekommen ist, auf die sie drei Jahre gewartet hat. Es ist ein Schmerz, der sich immer mehr verstärkt. Schritt um Schritt geht sie dem Fenster näher, sie neigt ihr Gesicht gegen die Scheiben. Scheibe um Scheibe ist leer; gesichtslos. Langsam öffnet sie das Fenster: der Bürgersteig vor dem Fenster ist leer. Niemand ist da. Rechts und links lärmen sie in der Straße, aber niemand ist hier in der Nähe …
Niemand? Auf der anderen Straßenseite steht eine lange dunkle Gestalt, in einen Mantel gehüllt, einen Karton unter dem Arm. Sie scheint herüberzusehen. Rieke sieht zurück. Sie will rufen, aber ihre Kehle ist trocken, sie räuspert sich, aber sie kann noch immer nicht rufen. Ihr Herz klopft schwer und angstvoll … Langsam schließt sie das Fenster wieder, sie sieht sich im Zimmer um. Sie entdeckt die Schlüssel auf dem Schneidertisch. Langsam geht sie über den dunklen Gang durch den dunklen leeren Laden. Sie schließt die Ladentür auf, einen Augenblick bleibt sie auf der Schwelle der offenen Tür stehen. Die Gestalt ist noch immer da.
Und plötzlich beginnt Rieke zu laufen, sie läuft so schnell und achtlos, daß sie fast über die Rinnsteinkante fällt. Sie taumelt gegen die schweigsame Gestalt an, sie hält sich an ihr, sie wirft sich gegen sie … Der Karton fällt zur Erde, zwei Arme umschließen Rieke. »Rieke – du meine einzige, liebste Rieke –« flüstert eine Stimme.
»Karle –« flüstert sie. »Det habe ick jewußt seit drei Jahren! Karle, det du nur wieder da bist! Karle, du mein Karle!«
61. Das rote Kleid wird genäht
Eine Stunde später saßen sie zusammen in der Schneiderstube. Das erste hastige Fragen und Erzählen war vorüber, und ein Verwundern über das unerwartete Glück faßte die beiden. Nachdenklich spielte er mit ihrer Hand, er legte die Finger zusammen und trennte sie wieder – zärtlich. Er sagte: »Wie das alles gekommen ist! Hast du je daran gedacht, Rieke, vorher?«
Und sie, wie immer ganz ehrlich: »Weeßte, Karle, ick hab dir liebjehabt – von Anfang an. Schon wie ick dir da im Zug sitzen sah, ha ick mir in dir verknallt.«
Keine Stimme warnte ihn, er hatte kein Gefühl der Gefahr. Jetzt war es nur die Heimat, die aus ihrem Munde zu ihm sprach. »Was wohl Kalli dazu sagen wird –?« fragte er nachdenklich.
»Ach der!« sagte sie. Sie wurde ein wenig rot. »Der hat doch immer jewußt, det ick dir liebe.« Sie dachte nach: »Weeßte, Karle, ick möchte ihm det lieber selbst erzählen, det von uns.«
»Wann kommt er denn?«
»Meistens so morgens um viere, fünfe. Manchmal wird’s ooch später. Janz wie er die Fuhren kriegt.«
»Daß er nun Autotaxi fährt! War denn mit dem Gepäck wirklich gar nichts mehr zu machen?«
»Aber nee doch, Karle! Mal streiken die Bahnmenschen, und mal ist der janze Personenverkehr uff drei Wochen jesperrt von wejen Kohlen und Kartoffeln. Und wer reist, derbuckelt sein Jepäck alleene. Nee, Karl, mit die Jepäckabfuhr, det ist alle!«
»Das wollen wir doch erst einmal sehen!« sagte Karl. »Gleich morgen frage ich auf den Bahnhöfen nach. Und dann gehe ich auf die Eisenbahndirektion und zu Herrn Gollmer. Hast du
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