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Ein Mann zum Abheben

Ein Mann zum Abheben

Titel: Ein Mann zum Abheben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Wright
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Europa davonsegelten. Wir sahen zu, wie ihre makellosen Gesichter in die Schattenwelten des Sex entschwanden, während ihre geschlossenen Augenlider zuckten und die Musik anschwoll. Im Drive-in-Kino wurde unsere Leidenschaft für Elizabeth Taylor geweckt, eine Leidenschaft, die wir heute noch miteinander teilen.
    »Frank sieht besser aus«, pflegte Kelly zu sagen und mich dabei anzustoßen, woraufhin wir stets noch heftiger lachen mussten.
    »Tut er nicht«, widersprach ich jedes Mal. »Kevin ist der Prinz, und Frank ist der Frosch.«
    Und Kelly schüttelte nur den Kopf und seufzte auf ihre pseudo-melodramatische Art: »Gib es zu, Baby. Du hast den besser aussehenden Zwilling abbekommen.«
     
    »Was hältst du von dem Buch?«, fragt Kelly, als sie in die Küche zurückkommt. Sie hat nicht nur ihre Bluse, sondern auch ihre Hose gewechselt und ihre Haare mit einem Glätteisen bearbeitet. Neben ihr sehe ich scheiße aus.
    »Nächsten Monat will ich David Copperfield behandeln«, sage ich. »Wir müssen zu den Klassikern zurückgehen. Er
hat tolle Gedankengänge und sagt so was wie: ›Es gibt nur die eine Frage, nämlich ob sich ein Mensch zum Helden seiner eigenen Lebensgeschichte entwickeln wird oder nicht.‹ Ist das nicht fantastisch?«
    »Puh. Gibt es das als Taschenbuch?«
    »Ja, es ist alt, es ist von Dickens. Charles Dickens. Natürlich gibt es das als Taschenbuch. Findest du nicht, dass das ein toller Gedankengang ist?«
    »Es ist ein toller Gedankengang.«
    »Das ist genau das, was ich will, ich will der Held meines eigenen Lebens sein.«
    »Was genau ist in Phoenix passiert?«
    In diesem Augenblick hören wir die Tür aufgehen, und Nancy und Belinda kommen herein. Sofort entschuldigt sich Belinda, weil sie das Buch nicht ganz gelesen hat.
    »Großer Gott, du siehst schrecklich aus, was ist los mit dir?«, fragt Kelly, die Belinda oft auf diese Art begrüßt, ohne je zu bemerken, wie taktlos sie klingt. Egal zu welcher Tageszeit man sie sieht, Belinda sieht immer so aus, als würde sie gerade aus dem Bett kommen.
    Sie lässt eine lange Geschichte vom Stapel: Ihr Jüngster hat sich gerade in dem Augenblick, als sie das Haus verlassen wollte, einen Zahn am Esstisch ausgeschlagen, und Michael wollte nicht mit einem verletzten und wimmernden Kind alleingelassen werden, sie hat sich deswegen mies gefühlt, aber das war ihr Abend, und sie hatte fast das ganze Buch gelesen, oder zumindest hundert Seiten.
    Nancy verdreht die Augen in Kellys und meine Richtung. Belinda ist fast zehn Jahre jünger als wir alle, und wir haben uns restlos daran gewöhnt, wie sie von Krise zu Krise taumelt.
    Belinda sagt ständig, dass sie dick werde, und für den Fall, dass ihr jemand nicht glaubt, schiebt sie, während sie das
sagt, ihren Pulli hoch. Sie behauptet, sie sei dumm, obwohl sie sich nicht bemüht, irgendeinen stichhaltigen Beweis dafür zu liefern, und sie weigert sich, etwas aus eigenem Antrieb zu unternehmen. Letzteres sagt vielleicht am meisten über sie aus. Die Liste ihrer Phobien ist lang und skurril und reicht vom Backen bis zum Überqueren von Brücken. Sie hat Angst davor, nachts Auto zu fahren, was einer der Gründe ist, warum Nancy sie abholt und überall hinbringt. Und Belinda betont ein ums andere Mal, vor allem aber wenn sie sich innerhalb der bewachten Tore von Kellys Siedlung aufhält, dass sie nicht wirklich hierherpasst.
    Das stimmt allerdings, doch Belinda versteht nicht, dass keine von uns hierherpasst. Wir sind auf gewisse Weise alle hierher verpflanzt - ob wir aus dem Norden oder aus dem Westen kommen -, selbst Kelly und ich, die wir nur wenige Meilen von diesen schmiedeeisernen Toren entfernt aufgewachsen sind. Wir beide sind vielleicht diejenigen, denen am meisten bewusst ist, dass das nicht die Welt ist, aus der wir stammen. Vor zwanzig Jahren gab es diese Vorstädte noch nicht, inzwischen scheint sich aber das Farmland, über das wir mit unseren Rädern fuhren, zu roten Backsteinen auszuwachsen. Es gibt keine frei liegenden Felder mehr, sondern nur noch Straßen, die von riesigen Häusern in georgianischem Stil gesäumt sind. Meine Mutter sagt mit finsterer Miene: »Sie schießen aus dem Boden«, und tatsächlich: Fährt man sechs Monate lang nicht mehr auf einer bestimmten Landstraße, stehen die Chancen gut, dass man sie beim nächsten Mal nicht wiedererkennt.
    Meine Mutter lebt in dem andauernden Zustand fehlender Orientierung, was sie meiner Meinung nach mit den Südstaatlern ihrer Generation

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