Ein Mann zum Abheben
und Marmor gelandet bist. Die schamlose Quadratmeterzahl macht uns alle auf gewisse Weise nervös: mich, weil ich mir ein bisschen Boheme und Künstlertum bewahre, Kelly, weil sie ihr Single-Apartment vermisst, Belinda, weil sie Angst hat, dass wir noch immer den Geruch der Wohnwagensiedlung an ihr wahrnehmen können, und Nancy, weil sie nicht aus dem Süden stammt.
Nancy hat rotes Haar und sehr blasse Haut, und sie ist äußerst stolz darauf, dass sie trotz ihres gefährdeten Teints keine Sommersprossen bekommt. Sie besitzt eine fast schon krankhafte Angst vor der Sonne. Sie kleidet sich, als befände sie sich mitten in einer nie enden wollenden Safari, und bewahrt im Fach zwischen den beiden Vordersitzen ihres Autos immer eine Tube Sonnencreme auf. Jedes Mal, wenn sie auf eine rote Ampel trifft, cremt sie sich und die Kinder damit ein. Die ganze Familie duftet nach Tropenfrucht. Nancy lässt von früh bis spät den Wetterkanal laufen und umgibt sich mit Thermometern. Sie kann dir zu jeder beliebigen Uhrzeit sagen, wie viel Grad es hat. So sagt sie zum Beispiel: »Es hat 34,5 Grad, und dabei ist es noch nicht einmal Mittag. Kaum zu glauben, oder? Nein, warte, warte, schau dir das an. Es hat 35 Grad.«
Sie gibt sich wirklich Mühe, ehrlich, doch ich erinnere mich an unseren ersten Literaturkreis, den wir in Nancys Haus abhielten. Wir kamen herein, setzten uns hin, und dann fing sie einfach an, über das Buch zu reden. Damals waren wir noch zu siebt im Literaturkreis, und wir alle sahen uns an und wussten nicht recht, was wir tun sollten. Ich fühlte mich unbehaglich. Allerdings fühlte ich mich unter anderem auch deshalb unbehaglich, weil ich mich so unbehaglich fühlte, denn was sagte das über mich selbst aus, wenn ich mich von so etwas derart aus der Fassung bringen ließ? Nancy sprach weiter über die Symbolik und die Erzählperspektive, bis Lynn sagte: »Entschuldige«, so als würde sie zur Toilette gehen. Doch sie ging in die Küche und tauchte ein paar Minuten später wieder auf, ein Tablett mit Gläsern voll eisgekühltem Tee in Händen.
»Ich glaube, du hast vergessen, die hier mit herauszubringen«, sagte Lynn leise. Nancy starrte die Gläser an, als hätte sie sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen. Wahrscheinlich waren sie ihr seit Jahren nicht mehr unter die Augen gekommen. Sie sahen nach ihrem guten Kristall aus. Lynn hatte sie Gott weiß wo gefunden, hervorgeholt und schnell ausgewischt.
»Oh«, antwortete Nancy, die noch immer durcheinander war, sich aber bemühte, die Situation so gut wie möglich zu überspielen. »Möchte jemand etwas zu trinken haben?«
Mir fällt die Yankeefrau aus der Gartenfestszene in Vom Winde verweht ein, die die Südstaatler »verwirrende und halsstarrige Fremde« nennt. Ich habe den Verdacht, dass Nancy uns genauso sieht: als verwirrende und halsstarrige Fremde, als Leute, die eine oberflächliche Freundlichkeit zur Schau stellen, aber schnell beleidigt sind, wenn sie Regeln bricht, von deren Existenz sie nichts gewusst hat. Vielleicht betrachtet sie ihre Zeit in North Carolina als eine
Art ausgedehnte anthropologische Studie. Ein bisschen sieht sie wie Margaret Mead aus, wenn sie unter ihren überdimensionalen Hüten und hauchdünnen Schals hervorspäht und sich im Geiste Notizen über die unbegreiflichen Rituale der Ureinwohner macht. Tatsächlich gibt es eine Menge Regeln, und selbst wenn Kelly und ich diese vielleicht nicht immer befolgen, bringt es einen doch ein bisschen aus der Fassung, wenn man auf jemanden trifft, der noch nicht einmal etwas von ihnen zu wissen scheint. In den Hühnchensalat kommt kein rotes Fleisch. Man bedankt sich schriftlich und per US-Post, anstatt sich auf eine E-Card zu verlassen. Man verbessert nicht die Aussprache eines Menschen - egal was er sagt. Jede Frau über siebzig ist mit »Ma’am« anzureden, zu Freundinnen, auf die du böse bist, sagst du ebenfalls »Ma’am«. Man gibt nicht damit an, wie billig man etwas bekommen hat, oder noch schlimmer, wie viel man dafür bezahlt hat. Dies gilt insbesondere für Grund- und Hausbesitz. Andererseits ist es völlig in Ordnung, zu saufen wie ein Loch oder zu fluchen oder mit dem Ehemann einer anderen zu flirten. Genaugenommen ist es ein bisschen beleidigend, wenn du es nicht tust. Weigerst du dich, mit ihrem Mann zu flirten, unterstellt das, dass deine Freundin eine schlechte Wahl getroffen hat. Und wenn ihr beide nur zu gut wisst, dass sie eine schlechte Wahl getroffen hat, musst du
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