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Ein Mann zum Abheben

Ein Mann zum Abheben

Titel: Ein Mann zum Abheben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Wright
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ineinanderliegenden Händen sitzen.
    »Wahrscheinlich wäre es vernünftig, das Ganze ein bisschen langsamer anzugehen«, schlägt sie vor.

    »Ja.«
    »Vielleicht nur ein Gespräch pro Woche und nicht täglich.«
    »Stimmt.«
    »Es wäre nicht schwer, alles zu forcieren, aber das ist gefährlich.«
    »Ich weiß.«
    »Wenn du dich nämlich in solche Situationen begibst, du weißt schon, wenn du Flugzeuge besteigst, die dich zu anderen Orten bringen, oder du dir die Haare waschen lässt … Dann musst du vorsichtig sein, weil die Leute irgendwann etwas bemerken.«
    »Ich weiß, Süße.«

Winter

Kapitel 16
    Kelly und ich besuchten verschiedene Colleges und verbrachten unsere Singlejahre in unterschiedlichen Städten. Wenn sie über diese Zeit in unserem Leben spricht, die Jahre zwischen achtzehn und siebenundzwanzig, behauptet sie immer, unsere Wege seien auseinandergelaufen. Ihr gefällt das Wort »auseinanderlaufen«. Sie spricht es gerne laut aus, betont dabei jede Silbe, aber Tatsache ist, dass mir nicht bewusst ist, dass unsere Wege jemals auseinandergelaufen sind. Würde das nicht heißen, dass sie außer Sichtweite gewesen ist? Sie war nie außer Sichtweite.
    Ich lebte in Baltimore, erteilte Kunstunterricht und schlief mit einem Künstler, als ich, aus dem Nichts heraus, von dem Wunsch nach einem Kind überfallen wurde. Solche Sachen passieren Frauen Ende zwanzig, das weiß jeder, aber ich war nicht darauf gefasst, dass es mir passieren würde. Als Kind habe ich nie mit Puppen gespielt und als Teenager war ich nie Babysitter, doch plötzlich erwischte ich mich im Supermarkt dabei, wie ich andrer Leute Kinder anstarrte. »Entschuldigen Sie, wie alt ist Ihr Baby? Ist es ein Junge oder ein Mädchen?« Solche Fragen stellte ich. Es schien wie die Erinnerung an ein früheres Leben. Ein Leben, das ich in einer Hütte am Meer verbracht hatte, mit einer Holzschüssel, um Getreide zu zermahlen, und langen Streifen aus buntem Stoff, die um meine Haare gewickelt
waren; ein Leben, in dem ich ein Kind nach dem anderen bekommen hatte, immer entweder schwanger gewesen war oder stillte. Ich konnte auf nichts anderes hinleben. Ich war wie besessen, gefangen in einer lunaren Anziehungskraft.
    Dann brach sich in jenem Jahr, in dem ich achtundzwanzig wurde, meine Mutter im Frühling den Fuß. Ich unterrichtete in einer von diesen Quasi-Montessori-Schulen für die reichen Kinder der Post-Hippie-Generation, und die Frühlingsferien standen bevor. Dort sprach man nicht von Ostern - sie nannten es Equinox Festival, Fest der Tag-und-Nachtgleiche. So oder so hatte ich eine Woche frei, und es wäre lieblos gewesen, wenn ich nicht hinuntergefahren wäre, um mich um Mom zu kümmern. Am meisten setzte ihr zu, dass man ihr das Autofahren verboten hatte und sie deshalb ihren ganzen ehrenamtlichen Beschäftigungen nicht nachkommen konnte. Komisch, es ist mir erst kürzlich bewusstgeworden, wie sehr meine Mutter Nancy ähnelt, wie restlos auch sie in ihren guten Taten aufgeht. Sie ist immer so beschäftigt, dass keiner sie je kritisieren oder behaupten kann, sie wirklich zu kennen.
    Nach drei Tagen war ich im Haus meiner Kindheit zu Tode gelangweilt und wunderte mich, warum mir bisher nicht aufgefallen war, dass meine Eltern das Fernsehen zu laut und die Heizung zu hoch aufdrehten. Meine Mutter konnte mich mühelos dazu überreden, einen kleinen Jungen namens Keon zur freien Zahnklinik zu fahren. Ich lieh mir ihren Volvo, holte Keon von seiner Vorschule ab und folgte ihren sorgfältigen und detaillierten Anweisungen zu einem medizinischen Zentrum, das sich in der Mitte eines Blocks mit Sozialbauten befand.
    Keon war ein stilles Kind. Er hatte keine Ahnung, wer ich war, ging aber bereitwillig mit mir mit. Schon mit vier Jahren schien er daran gewöhnt zu sein, die Hände fremder
weißer Frauen zu ergreifen und in Kombis einzusteigen. Im Wartezimmer der Klinik befand sich eine Kreidetafel, auf der die Ärzte angeschrieben standen, die gerade ehrenamtlich Dienst hatten, wie Tagesmenüs in einem Restaurant. Der Tageszahnarzt hieß Philipp Bearden. Ein sympathischer Name für einen sympathischen Mann, denn wer anders als ein sympathischer Mensch würde ehrenamtlich in der Freien Klinik Dienst tun.
    Als er uns endlich aufrief, geriet Keon, der im Wartezimmer mit Bauklötzchen gespielt hatte, in Panik. Ich glaube, ihm war gar nicht aufgefallen, wo er war oder was gleich geschehen würde, bis er den großen Hydraulikstuhl sah. Mit erstaunlicher

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