Ein Mann zum Abheben
Wildheit stemmte er seine kleinen Fersen in den Boden, und Dr. Bearden, ein stämmiger, zerzauster Mann mit einem ungepflegten Bart und einer sanften Stimme, konnte ihn nur überreden, auf den Stuhl zu klettern, indem er ihm versprach, dass ich mich dazusetzen würde und er auf meinem Schoß sitzen könnte.
So habe ich Phil kennengelernt. Er war seit einem Jahr mit dem Zahnarztstudium fertig. Ich rechnete nach. Er musste also mindestens ein Jahr jünger sein als ich, vielleicht sogar zwei. »Die Kinder nennen mich Dr. Phil«, sagte er, das war vor der gleichnamigen TV-Show, weshalb ich nicht lachte. Keon packte mit seinen kleinen Händen meine Handgelenke und drückte so fest zu, als wollte er mir den Puls fühlen. Dr. Phil rieb ihm die Backen, bis er endlich imstande war, seinen Mund zu öffnen. »Der kleine Kerl da hat wehgetan«, sagte er mehr zu sich selbst als zu mir. »Zwei müssen raus.«
Man konnte sehen, dass er an Kinder gewöhnt war, er ging gut mit ihnen um. Er legte seine große Hand so sorgfältig um die Betäubungsspritze, dass Keon gar nicht richtig sehen konnte, was auf ihn zukam. Er zuckte kurz, als die
Nadel in seinen Gaumen eindrang, und als Phil seine Hand zurückzog, sagte Keon zum ersten Mal etwas. Er sagte: »Lied.«
»Ja, das stimmt«, sagte ich. »Es zieht ein bisschen, aber jetzt ist es vorbei.«
Phil schüttelte den Kopf. »Er will, dass sie ein Lied singen.«
»Ich soll singen?«
»Lied«, sagte Keon erneut.
»Offenbar«, um Phils Augen zeigten sich Fältchen, er schien unter seinem Mundschutz zu lächeln, »gibt es jemanden, der ihm vorsingt, wenn er Angst hat.«
»Ich singe nicht - nie.«
»Lied.« Keon wurde energischer und drehte sich so heftig um, dass er fast das Baumwolllätzchen weggezogen hätte.
»Es sieht ganz danach aus, als würden Sie singen müssen.«
Ich fing an zu singen. Ich sang »Happy Birthday«, weil es mir als Erstes einfiel. Ich kann nicht singen. Meine schlechte Stimme ist unter meinen Freunden legendär, doch Phil hatte Recht gehabt, irgendwo hatte irgendwann irgendwer gesungen, um dieses Kind zu beruhigen. Fast in Sekundenschnelle sackte sein Körper auf mir zusammen, und als Phil ihn bat, den Mund zu öffnen, machte er es. Also sang ich »Happy Birthday«, dann »Camptown Races«, »Free Bird«, »Jingle Bells« und »Girls Just Want to Have Fun«. Jedes Mal, wenn ich aufhörte, sagte Keon »Lied«, und ich fing mit einem neuen Lied an, immer etwas anderes, aber immer etwas Unpassendes. Und ich wusste, dass Phil sich das Lachen verkniff.
Doch er bekam den einen Zahn heraus und danach den anderen. Während ich dasaß, den Jungen in den Armen hielt und mir Phils große Hände anschaute, begann ich mich zu
fragen, wo genau mein Leben hinführte und warum ich noch immer unterrichtete, wenn ich doch miserabel verdiente und kaum Zeit für meine eigenen Töpfe hatte. Eigentlich hatte ich mich nach der Kunstakademie entschlossen, in Teilzeit zu unterrichten und die Nachmittage im Atelier zu verbringen, aber weder das eine noch das andere schien zu funktionieren. Die Kinder wollten nichts über Weben oder Wasserfarben lernen. Sie waren mit besserem Stoff zugedröhnt, als ich ihnen bieten konnte, zudem war es eine von den Schulen, wo von mir erwartet wurde, dass ich alles, was sie tun, überschwänglich lobe. Sie erhielten für ihr bloßes Erscheinen ein Abschlusszeugnis, und ihre Kunstwerke wurden in den Eingangshallen von Gebäuden ausgestellt, die ihren Vätern gehörten - selbst die, bei denen ich den Verdacht hatte, dass die Hausangestellten sie gemacht hatten. Ich konnte mir nur die Ateliermiete für sechs Stunden wöchentlich leisten und hatte keine Krankenversicherung. Mir kam der Gedanke, dass ich Dr. Phil, sobald er mit Keon fertig war, fragen sollte, ob er bei meinen Zähnen eine Zahnreinigung vornehmen könne. Der Himmel weiß, wie lange die letzte her war.
Ich dachte an den Kerl, mit dem ich gerade ins Bett ging, und eine Sekunde lang - nur eine Sekunde, aber immerhin - konnte ich mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Und ich dachte daran, dass es in Maryland geschneit hatte, als ich wegfuhr, während hier bereits die Bäume zu blühen anfingen und ich auf Frühling eingestellt war. Verdammt, meine Eltern hatten Recht, es gab keinen Grund, in der Kälte zu leben, und warum war ich nur immer noch so sinnlos rebellisch, wo ich doch schon fast dreißig war. Ich wollte nach Hause kommen. Ich wollte ein Haus haben. Ich wollte schwanger werden.
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