Ein Mensch wie Du
in Köln«, sagte sie tapfer. »Wo mag er sein?« dachte sie dabei. »Noch in München? Oder versteckt er sich in den Bergen? Wovon lebt er bloß? Ob er hungern muß? Er hat doch keinen Pfennig Geld, und singen wird er nie wieder können. Jede Oper ist gewarnt worden, keiner wird ihn mehr nehmen, trotz seiner wundervollen Stimme, von der Professor Glatt sagte: ›Sie wird in dieser Vollendung nur jedes Jahrhundert einmal den Menschen geschenkt.‹«
»Warum haben Sie mir das nicht gesagt?« fragte der Assessor bitter. Er kaute an der Unterlippe und war blaß geworden trotz der Seebräune.
Greta hob hilflos die Arme. »Sie haben mich nie gefragt, und ich habe nie geglaubt, daß …« Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf, als wolle sie damit sagen, daß es nutzlos wäre, diese Gedanken weiterzuspinnen. »Es ist gut so, wie es jetzt ist … Leben Sie wohl …«
Der Assessor nahm Gretas Hand und drückte sie. »Ich darf Sie aber trotzdem nach Hause begleiten?« fragte er. »Als ein wirklich guter Freund?«
»Das dürfen Sie.«
Schweigsam gingen sie durch die Wälder an den Strand zurück, in das fröhliche Leben hinein, umjauchzt von Ball spielenden Menschen und umweht von den Wimpeln, die an langen Schnüren die Sandburgen schmückten.
Vom Kasino herüber erklang Tanzmusik. Eine Kapelle in weißen Anzügen spielte auf der Terrasse.
»Fünf-Uhr-Tee«, sagte der Assessor zögernd. »Wollen wir noch einmal tanzen …?«
Greta nickte. Wehmut erfüllte ihr Herz. »Ich verzichte auf das Glück, das ich schon in den Händen halte«, dachte sie. »Und was mag Franz jetzt tun? Lebt er noch? Ist es nicht sinnlos, auf ihn zu warten, auf ihn, der vielleicht nie, nie wiederkommt? Er hat mich verraten … Er ist von uns geflüchtet wie eine Memme, er hat sich abscheulich benommen. Aber ich liebe ihn … Das ist das Merkwürdige – ich liebe ihn trotzdem und werde auf ihn warten. Denn so schlecht kann er nicht sein, daß er mich ganz vergessen wird … Einmal wird er zurückkommen, und es ist ganz gleich, wie er kommt … Dann werde ich für ihn da sein und ihm die Tür öffnen, damit er dahinter Ruhe und Frieden findet.«
Sie betraten die Terrasse und suchten einen freien Tisch unter den buntgestreiften Sonnenschirmen. An der Blumenbalustrade war noch ein Platz frei. Sie setzten sich und blickten über den Strand und das leise bewegte, blaue Meer. Eine Segeljacht glitt vorüber, vor dem Bug schäumten die Wellen auf.
Ein Plakat flatterte im Wind: »Zum Abschluß der Saison Ende September spielt im Kasino die Kapelle Jackie John.«
Greta las es nicht. Jackie John – ein Name, der ihr nichts sagte. Ende September … Bis dahin würde sie längst wieder in Köln hinter der Theke stehen und Perlonunterröcke verkaufen. »Größe vierundvierzig, gnädige Frau? Bestimmt paßt sie Ihnen! Und die Spitzeneinsätze sind entzückend und unterstreichen die Büste … Jawohl, gnädige Frau … Fünfunddreißig Mark und fünfundsiebzig Pfennig … Bitte an der Kasse zu zahlen. Danke, gnädige Frau. Auf Wiedersehen …«
»Ein Eis?« fragte der Assessor.
»Ja. Bitte.«
Die Tanzkapelle spielte einen Blues. »Tanzen wir?«
Sie nickte.
»Ob Franz hungern muß?« dachte sie, als sie an dem hochgefüllten Büfett vorbeitanzten. »Wo mag er schlafen?«
Es war, als ob die Sonne erkaltete und das Meer leblos wurde wie erstarrtes Blei …
In Rom wohnte Franz Krone bei Professor Caricacci.
Seit zwei Monaten führte er wieder das asketische Leben, das er schon bei Professor Glatt durchgestanden hatte, nur mit dem Unterschied, daß Caricacci noch strenger war und seine Lehrmethode fast an die preußische Militärgrundausbildung grenzte. Nicht, daß Franz Krone, statt zu singen, durch den weiten Park der Caricacci-Villa robbte, aber zu seinem Ausbildungsprogramm gehörte jeden Morgen um sieben Uhr ein Dauerlauf durch die Campagna, das Band der Via Appia hinab, wobei ihn Caricacci auf einem Motorroller begleitete. »Luft«, sagte Caricacci immer, »Luft ist bei einem Sänger die Hauptsache! Ohne Luft ist er ein Jammerlappen! Wie wollen Sie Fermaten singen, wie wollen Sie das C über sechs ganze Töne hinweg halten, ohne mit der Stimme zu flattern, wenn Sie keine Luft haben?! Ein Boxer muß Luft für fünfzehn Runden haben … Sie müssen Luft für eine fünfstündige Oper besitzen – das sind dreieinhalb komplette Weltmeisterkämpfe im Schwergewicht! Also – avanti, avanti! Laufen, bis zum Umfallen! Und richtig atmen! Haushalten
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