Ein Mensch wie Du
mit den Kräften! Nach einem 3.000-m-Lauf müssen Sie noch den Siegfried singen können!«
Und er lief, vorbei an den Jahrhunderte alten Gräbern, an den Denkmälern versunkener Epochen, an großen Gütern hinter Pinienhainen – »ob eines davon Sandra Belora gehört?« fragte er sich beim Laufen, denn sie besaß ja ein Gut in der Campagna neben der Via Appia antica –, er lief, bis ihm der Schweiß in Strömen den Körper hinunterlief und sein Trainingsanzug durchgeschwitzt war. Jeden Morgen, pünktlich sieben Uhr, stand Caricacci auf dem Weg und winkte oder hupte, wenn Franz noch nicht unten an der Tür wartete. Nach dem Lauf wurde ausgiebig und gut gefrühstückt, dann ausgeruht, und um halb zehn begann die Gesangsstunde, auch mit einer eigenen Methode Caricaccis, die zuerst den inneren Menschen zerbrach, um dann einen neuen, härteren und dem großen Ziel gewachsenen Menschen zu formen. Caricaccis Zeigefinger hämmerte auf dem Flügel, aber nicht die Tonleiter, sondern nur einen einzigen Ton. Immer nur diesen einen Ton, von halb zehn bis halb zwölf, zwei Stunden lang nur einen einzigen Ton, bis Franz Krone den Kopf schüttelte.
»Das macht mich verrückt!« sagte er laut und setzte sich. »Ich singe diesen widerlichen Ton schon im Traum!«
»Das ist gut, das ist sehr gut«, rief Caricacci begeistert. »So muß es sein! So und nicht anders! Sie müssen die Töne fühlen können, noch ehe der Dirigent weiß, daß er zwei Takte später einwinken muß! Und dann muß der Ton sitzen, ob Sie ihn an dem Abend dreimal oder dreitausendmal singen … Der dreitausendste Ton muß so klingen wie der erste!« Er stieß den Zeigefinger wieder auf den einen widerlichen Ton. »Los, amigo … Noch einmal mit Messa di voce …«
Und Franz Krone sang zwei Stunden lang den gleichen Ton, jeden Tag einen anderen, dann die Töne durcheinander, schließlich als Arie geformt, und Caricacci nickte zufrieden und schloß den Flügel mit einem Knall.
»In drei Wochen stelle ich Sie vor«, sagte er temperamentvoll. »Und ich wette eine Million Lire gegen eine saure Gurke, daß Sie am nächsten Tag der erste Sänger der Erde sind!«
Wenn Caricacci so sprach, war ihm dies der volle Ernst. Ein heißes Glücksgefühl durchrieselte Franz Krone. Sollte es wahr werden, daß der neue Start besser wurde als der erste Versuch, die Welt zu erobern?!
Er trat hinaus auf die breite Terrasse der Villa und blickte über den Park hinweg auf die Campagna. Hier gab es keine Sandra Belora, hier würde keine Greta sein, keine Gloria. Hier würde er auf der Bühne stehen, zweitausend Fremde vor sich, die er mit seiner Stimme in einen Taumel singen wollte, so daß sie ihm zujubeln und Blumen auf die Bühne werfen würden, ein Meer von Blumen.
Caricacci war mit seinem hellblauen Fiat-Cabriolet nach Rom gefahren. Der Nachmittag war frei, Franz Krone konnte Spazierengehen, er konnte in dem Schwimmbecken der Villa baden oder auf der großen Wiese neben dem Zypressenhain auf Scheiben schießen. Meistens lag er in einem Liegestuhl im Schatten eines großen Ölbaumes und blickte über diese stille, stolze, den unsterblichen Atem der Klassik noch in sich tragende Landschaft hinweg. Aus einem Siphon spritzte er sich Fruchtsaft in ein Glas, aß dazu einige geröstete Weißbrotschnitten und las viel in den alten, wertvollen Büchern, die einen Hauptteil der Caricaccischen Bibliothek ausmachten. Am Abend dann begann, entgegen der Methode Glatts, noch einmal der Unterricht, und zwar vor dem Abendessen. Abends mußte er keine Töne mehr singen, abends wurden die Partien geübt, die ganzen Opern, die Einsätze, Duette, Terzette, Quartette, die Arien und Rezitative. Das Repertoire des Sängers wurde gebildet. – »Sie müssen, ehe ich Sie auf die Menschheit loslasse, mindestens zehn Opern mühelos beherrschen!« sagte Caricacci einmal. »Sie müssen den üblichen Spielplan – die Standardopern – alle ohne Probe singen können, denn wie schnell müssen Sie einmal bei Erkrankungen einspringen und ohne Probe singen. Sie müssen auf die üblichen Opern voll einstudiert sein!«
So wurde jeder Abend eine intime Opernaufführung im Hause Caricacci. Zuhörer waren die Köchin, ein Zimmermädchen, der Gärtner, seine Frau, ein Gartengehilfe und zwei Borgheserhunde, die langhaarig und stolz auf dem Teppich des Musikzimmers hockten und Franz Krone mit klugen Augen ansahen.
Zwei Monate lang ging dieses Leben nun in dieser streng vorgeschriebenen Bahn, nur ab und zu unterbrochen
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