Ein Mensch wie Du
Ich schlage dich … Töte mich doch, du Feigling, erwürge mich doch … Ich halte still … Ich will ja sterben … Ich will, daß du mich tötest!«
Da nahm er ihre Hand, ihre plötzlich schlaffe, kleine leichte Hand, und ließ sie von seinem Gesicht fallen. Stumm wandte er sich ab und verließ den Raum. Als er die Tür hinter sich zuzog, hörte er, wie Gloria mit den Fäusten gegen die Wand trommelte und Worte schrie, die er nicht mehr verstand.
Er ging auf sein Zimmer und schloß sich ein. Die Hände vor die Augen gelegt, saß er am Fenster und bekämpfte die Regung, zu weinen wie ein Kind.
Draußen, auf der Straße, gellten die Hupen der Rettungswagen, die in rasender Fahrt noch immer nach Epidauros fuhren, um die Verletzten und Toten am Golf von Ägina zu bergen.
Unten, in der Bar, lallte Jackie John und wurde von dem Mixer die Treppen hinaufgeschleift. Der Radiosprecher des Rundfunks gab die ersten Berichte und Verlustzahlen des Erdbebens durch.
Hubschrauber landeten in den Felsschluchten, um Verschüttete zu suchen.
In ihrem Zimmer lag Gloria auf dem breiten Bett und weinte. Sie lag mit dem Gesicht in den Kissen, auf dem Bauch, und ihr Körper wurde vom Schluchzen hin und her geschüttelt.
In diesen Minuten, in denen die Vielfältigkeit des Lebens sich hektisch steigerte, ging auch ein Telegramm hinaus nach Rom, Via San Giorgio 34, Conservatorium Caricacci.
»Bringe übermorgen größten Sänger mit stop Richtet Zimmer her stop Benachrichtigt Giulio stop Caricacci.«
Und das Telegramm flog in die Welt hinaus mit der Nachricht von dem schrecklichen Erdbeben von Argolis, dem bis zu dieser Stunde 347 Menschen zum Opfer gefallen waren.
In Köln lebte unterdessen Greta Sanden ihr beschauliches, einfaches und geordnetes Leben weiter. Das Rätsel um das plötzliche Verschwinden Franz Krones hatte sie in den ersten Wochen sehr erregt und seelisch aus der Bahn geworfen. Sie war mit Professor Glatt, der für alles nur ein verständnisloses Kopfschütteln hatte, zurück nach Köln gefahren, die ganze Strecke vor sich hinweinend, still, nach vorn gebeugt, ihren Schmerz in sich hineinpressend. Glatt hatte sie in Köln mit einer Taxe nach Hause gebracht und einen ihm bekannten Arzt angerufen, der noch am Abend kam und die aufgelöste Greta mit einer Herzmittelinjektion beruhigte.
»Überschlafen Sie erst einmal alles, mein Fräulein«, sagte der alte Arzt gütig. »Wenn morgen die Sonne scheint, sieht alles anders aus. Der Mensch kann vieles ertragen – da ist eine enttäuschte Liebe ein sehr kleiner Schmerz. Vor allem ist es schneller zu heilen als ein gebrochenes Bein. Schlafen Sie erst einmal ganz ruhig, bis in den späten Morgen hinein. Und dann fahren Sie mal vierzehn Tage woanders hin, an die See, in die Heide, ins Gebirge, lernen Sie neue Menschen kennen, amüsieren Sie sich, tanzen Sie mal, lachen Sie … Warum einem einzigen Mann nachtrauern, wo tausend anständige noch zu haben sind?! Denn dieser ist es nicht wert …«
»Das dürfen Sie nicht sagen …« Greta richtete sich im Bett auf und sah den alten Arzt flehend an. »Franz ist nicht schlecht! Irgend etwas hat ihn aus der Bahn geworfen – er war an diesem Abend ein anderer Mensch … Er war so fremd, so verstört …«
»Und die … andere Frau?«
»Sie war seine Partnerin in der Oper.«
»Das alte Lied«, nickte der alte Arzt. »Sie hat ihn auch nicht gefunden?«
»Nein. Der Intendant, den wir später besuchten, war ratlos. Franz war nirgends zu finden. Auch ein Aufruf in den Münchener Zeitungen und durch den Sender München, den Professor Glatt vorgeschlagen hatte, war ohne Ergebnis.« Sie weinte wieder und ließ sich in die Kissen zurückfallen, die Hände vor die brennenden Augen schlagend. »Ich habe solche Angst um ihn«, stammelte sie.
»Sie lieben ihn noch immer?«
Sie nickte unter den Händen und drehte dann das Gesicht zur Seite, als wollte sie schlafen. Der alte Arzt erhob sich und packte seine Tasche zusammen.
»Fahren Sie weg!« sagte er noch einmal eindringlich. »Gehen Sie hinaus in das Leben. Erholen Sie sich von dem seelischen Schock. Auf Wiedersehen – und ich komme morgen wieder. Solange bleiben Sie schön hübsch im Bett. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Herr Doktor.«
Dann war sie allein, und die Gedanken stürmten wieder auf sie ein und quälten sie ärger als größte körperliche Schmerzen: Sandra Belora mit ihrem weißen Wagen, der letzte Brief mit der Bitte, nicht nach München zu kommen, der schreckliche
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