Ein Mensch wie Du
gnädige Frau. Wo denken Sie hin?! Wir wollen Sie gesund sehen – etwas anderes gibt es bei mir nicht.«
»Aber ich bin so schwach … Um mich herum ist alles so leicht, so federleicht. So stelle ich mir das Sterben vor – ein Loslösen von aller Erdenschwere, ein Schweben, das in die Weite führt …«
»Das macht noch die Narkose, gnädige Frau.« Der Oberarzt beugte sich vor und fühlte den Puls. Er sah dabei Kondritz an und schüttelte den Kopf. »Eine postoperative Schwäche, es hat nichts zu sagen.«
Greta schloß die Augen. »Wie schön er singt«, flüsterte sie. »Nicht wahr, Herr Professor …«
»Gewiß, gnädige Frau. Eine solche Stimme habe ich noch nie gehört.«
»Und er war stumm, Herr Professor. Völlig stumm! Mein Unglück hat ihm die Stimme wiedergegeben …« Sie lächelte schwach. »Dann waren sie nicht umsonst – die Schmerzen, die Ängste …« Sie schwieg und schluckte mühsam. »Ich habe Durst, Herr Professor …«
Der Oberarzt erhob sich und tränkte einen Mullstreifen mit Wasser. Mit diesem Stückchen Stoff befeuchtete er die Lippen Gretas. Sie öffnete den Mund, und der Arzt wusch ihr die Mundhöhle aus.
»Das tut gut«, sagte sie schwach.
»Morgen dürfen Sie wieder etwas trinken.« Kondritz erhob sich. »Schwester Bettina wird Ihnen immer die Lippen anfeuchten.«
»Danke, Herr Professor …«
Aus dem Radio quoll der Beifall auf. Die Oper war zu Ende, die Zuschauer riefen Corani immer wieder vor den Vorhang. Ihr begeistertes Klatschen überschlug sich im Lautsprecher des Apparates.
»Soll ich abstellen?« fragte der Oberarzt.
»Nein – bitte – lassen Sie an! Ich freue mich ja so über seinen Erfolg …«
Leise verließen die Ärzte das schmale Zimmer. Schwester Bettina saß draußen auf dem Flur in einem Korbsessel am Fenster. Sie erhob sich, als die Ärzte auf den Gang traten.
»Jede halbe Stunde den Mund auswaschen«, sagte Kondritz, während der Oberarzt schon voraus auf sein Zimmer ging. »Dr. Bormann soll gegen Abend noch eine Cardiazol-Injektion machen; wenn die Schwäche anhält, 10 ccm Traubenzucker! Bei jeder anderen Veränderung des Zustandes rufen Sie mich sofort an. Ich bin zu Hause.«
»Jawohl, Herr Professor.«
Schwester Bettina öffnete leise die Tür des Zimmers und trat ein. Sie stellte das Radio ab und deckte Greta bis zur Brust zu. Sie schlief, mit einem Lächeln auf den Lippen, das sie im Traum hinübergerettet hatte von dem Glück, den Erfolg Coranis miterlebt zu haben.
Und wieder flog die Stimme um die Welt.
Während Greta nach zwei Monaten Gipsbett wieder aufstehen durfte und in einem Gehgestell die ersten Schritte probte, sang Corani in New York an der Metropolitan. Als Greta wimmernd und vor Schmerzen das Taschentuch zwischen den Händen zerfetzend auf dem Massagetisch lag, sang er in Rio de Janeiro. Bei den Festspielen in Mailand tobte die Scala und stürmten die Enthusiasten die Bühne nach einer Aufführung des ›Rigoletto‹ … An diesem Tag unternahm Greta, auf die Schultern von zwei Schwestern gestützt, die ersten Schritte im Garten ohne Gehgestell bis zu einer Bank, wo sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht setzte. Aber sie konnte gehen … Die Beinnerven versagten nicht, sie waren nicht mehr gefühllos, sie gehorchten wieder dem Willen … Sie ging und spürte unter sich den Kies des Weges und die kleinen Erhebungen der festgestampften Erde.
Noch einmal sah Francesco Sandra Belora wieder. Es war bei einem Konzert im Musikhaus von Los Angeles. Er sang Opernarien und italienische Volkslieder, begleitet von dem großen Sinfonieorchester Los Angeles. Als er an die Rampe der Bühne trat und hinabblickte in den Zuschauerraum, sah er in der ersten Reihe neben dem Bariton Ettore Constantino und Caricacci die schwarzen Haare und die leuchtenden Augen Sandras. Er grüßte hinab, sie grüßte mit erhobener Hand zu ihm hinauf, Constantino winkte ihm zu. In diesem Augenblick wußte Franz, daß Sandra wirklich mit seinem Leben nichts mehr zu tun hatte und der letzte innerliche Druck, die letzte Angst vor einer Wiederkehr aller Zwiespalte und Versuchungen von ihm genommen war. Befreit erschütterte seine Stimme die Zuhörer im riesigen Saal, und als man ihm einen wundervollen Rosenstrauß auf die Bühne brachte, nahm er eine langstielige, rote Rose aus dem Bukett und warf sie von der Bühne hinab in Sandras Schoß.
»Leb wohl«, sollte dies heißen. »Und habe Dank für alles, was wir miteinander erlebten. Wir sind eine Zeitlang miteinander
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