Ein Moment fürs Leben. Roman
nicht mal richtig geschmeckt hatte, war ich hungrig wie ein Wolf. Die Landlady bereitete im Handumdrehen ein paar Schinkensandwiches und eine Kanne Tee, was beides wunderbar schmeckte, und danach fuhr sie noch einen Teller mit Keksen auf – eine Sorte, die ich seit meinem zehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte. Dann saß ich mit Lockenwicklern im Haar auf dem Bett und lackierte mir die Fußnägel. Aber die Beschimpfungen meines Vaters gingen mir nicht aus dem Kopf, der sich hohl und leer anfühlte, sicher die ideale Einöde, in der solche Worte bis in alle Ewigkeit widerhallen konnten.
»Hör auf, ständig an deinen Vater zu denken«, sagte mein Leben.
»Kannst du Gedanken lesen?«, fragte ich.
»Nein.«
»Weil du manchmal genau das sagst, was ich gerade denke.« Ich sah ihn an. »Wie machst du das?«
»Vermutlich kriege ich irgendwie mit, was du fühlst. Aber es ist ja auch total naheliegend, dass du an deinen Dad denkst. Er hat dir ein paar ganz schön harte Dinge an den Kopf geworfen.«
»Er ist nicht mein Dad, sondern mein Vater«, korrigierte ich ihn.
»Möchtest du darüber reden?«
»Nein.«
»Deine Eltern sind also reich«, sagte mein Leben, den meine Antwort keineswegs dazu brachte, das Thema ruhen zu lassen.
»Wohlhabend«, sagte ich automatisch, ohne nachzudenken.
»Wie bitte?«
»Sie sind nicht reich, sondern wohlhabend.«
»Wer hat dir denn das schöne Wort beigebracht?«
»Mum. Mit acht war ich im Sommerlager, und die anderen Kinder haben dauernd davon geredet, wie reich ich bin, weil sie mich in einem BMW hatten vorfahren sehen – oder in irgendeinem anderen Wagen, den wir damals hatten. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, Geld war kein Thema, daran verschwendete man keinen Gedanken.«
»Weil ihr immer welches hattet.«
»Vielleicht. Aber irgendwann hab ich dann angefangen, das Wort selbst zu benutzen. Ich erinnere mich noch gut an eins unserer jährlichen Wintersonnwendfrühstücke mit den Maguires. Da hab ich aus irgendeinem Grund gesagt, wir wären reich, und meine Eltern haben mich so entsetzt angestarrt, dass ich wusste, ich würde dieses Wort nie wieder in den Mund nehmen. Es war, als hätte ich etwas Unanständiges gesagt. Als wäre reich ein ganz schlimmes Wort.«
»Was für Regeln hat man dir denn sonst noch eingebläut?«
»Oh, eine Menge.«
»Zum Beispiel …?«
»Ellbogen nicht auf den Tisch, nicht mit den Achseln zucken, nicht mit dem Kopf nicken … nicht mit neun Männern in einer Scheune Poitín trinken.« Er sah mich fragend an. »Lange Geschichte. Nicht weinen, überhaupt kein Gefühl zeigen, nicht das Gesicht oder sonst was verziehen. Du weißt schon, das Übliche.«
»Hast du immer alle Regeln befolgt?«
»Nein.«
»Hast du alle gebrochen?«
Ich dachte an die Nicht-Weinen-Regel, die eigentlich keine Regel war, sondern eher eine Angewohnheit. Ich sah meine Eltern einfach nie weinen, nicht einmal beim Tod ihrer eigenen Eltern; sie benahmen sich so gefasst und ruhig und angemessen wie immer.
»Nur die wichtigen«, antwortete ich schließlich. »Mein gottgegebenes Recht, mit neun Männern in einer Scheune Poitín zu trinken, werde ich mir niemals nehmen lassen.«
Das Handy meines Lebens piepte.
Er las, lächelte und simste sofort zurück.
»Ich bin nervös wegen morgen«, gestand ich.
Wieder ein Piepen, und er sah sofort nach, ohne meine großartige Offenbarung zu beachten. Abermals lächelte er und schrieb umgehend zurück.
»Wem simst du denn da?«, fragte ich und spürte eine sonderbare Eifersucht, weil er mir ausnahmsweise mal nicht seine volle Aufmerksamkeit schenkte.
»Don«, antwortete er, ganz auf seine SMS konzentriert.
»Don? Meinem Don?«
»Wenn du gern ein psychotisches Besitzrecht auf andere Menschen anmelden möchtest, dann ja. Ich schreibe
deinem
Don.«
»Das ist überhaupt nicht psychotisch, schließlich hab
ich
ihn zuerst kennengelernt«, grollte ich. »Aber egal – was will er denn?« Ich versuchte auf sein Telefon zu schielen, aber er hielt es schnell weg.
»Geht dich nichts an.«
»Warum schreibst du ihm überhaupt?«
»Weil wir gut miteinander auskommen und ich Zeit für ihn habe. Morgen Abend gehen wir zusammen einen trinken.«
»Morgen Abend? Das geht nicht, da sind wir noch weg, und überhaupt – was denkst du dir denn dabei? Ist das kein Interessenkonflikt für dich?«
»Falls sich das auf Blake bezieht, für ihn interessiere ich mich nicht. Also nein, kein Konflikt.«
Ich musterte ihn. Seine
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