Ein Moment fürs Leben. Roman
muss anders werden, anders als bisher. Ich war mein ganzes Leben so, aber ich wünsche mir, ich wäre mehr wie du, Lucy.«
»Wie bitte?«
»Du bist so entschlossen, so konfliktbereit.« Sie stieß mit der Faust in die Luft. »Du weißt, was du willst, und es ist dir egal, was andere Leute sagen oder denken. So warst du schon immer, schon als Kind, und ich will auch so werden. Verstehst du, ich wusste nie, was ich will – ich weiß es immer noch nicht. Ich wusste nur, man erwartet von mir, dass ich heirate und Kinder kriege, genau wie meine Mutter und meine Schwestern. Und das
wollte
ich auch. Ich hab deinen Vater kennengelernt, und wir haben geheiratet. Da war ich eine Ehefrau. Dann hab ich Kinder bekommen.« Wieder streckte sie die Hand nach mir aus, vermutlich wollte sie mich bitten, ihr das, was sie sagte, nicht übelzunehmen. »Und war eine Mutter. Ich war Ehefrau und Mutter, aber ich weiß nicht, ob ich jemals wirklich irgendetwas richtig gut konnte – oder kann. Du und die Jungs, ihr seid erwachsen … und was bin ich jetzt?«
»Ich werde dich immer brauchen«, protestierte ich.
»Lieb von dir, das zu sagen.« Sie streichelte liebevoll meine Wange und fügte hinzu: »Aber es stimmt nicht.«
»Und jetzt bist du außerdem auch noch eine tolle Großmutter.«
Sie verdrehte die Augen, machte dann aber wieder ein schuldbewusstes Gesicht. »Ja, natürlich, und das ist alles auch schön und gut, glaub mir. Aber ich tue und bin wieder irgendwas für andere. Ich bin Jacksons und Lukes und Jemimas Großmutter, ich bin deine und Rileys und Philips Mutter, ich bin Samuels Frau, aber wer bin ich für mich? Manche Leute kennen ihre Fähigkeiten ganz genau. Meine Freundin Ann zum Beispiel wusste schon immer, dass sie Lehrerin werden will, und das ist sie auch geworden. Sie ist nach Spanien gezogen, hat einen Mann kennengelernt, und jetzt trinken sie Wein und essen feine Fleischgerichte und schauen sich den Sonnenuntergang an und sind jeden Tag Lehrer.« Sie seufzte. »Ich hab nie gewusst, was ich will, was ich kann. Und ich weiß es immer noch nicht.«
»Sag doch nicht so was. Du bist eine wunderbare Mutter.«
Sie lächelte mich traurig an. »Nichts für ungut, aber ich möchte mehr sein.« Sie nickte, als hätte sie gerade etwas Wichtiges begriffen.
»Momentan bist du vor allem wütend«, sagte ich beschwichtigend. »Das ist verständlich. Ich könnte keine drei Minuten mit Vater zusammenleben, von fünfunddreißig Jahren ganz zu schweigen. Aber wenn du dich beruhigt hast, kriegst du vielleicht wieder Lust auf das Fest.«
»Nein«, entgegnete sie bestimmt. »Das Fest ist abgeblasen. Das ist mein Ernst.«
»Aber es ist nur noch ein Monat Zeit. Die Einladungen sind verschickt. Alles ist gebucht.«
»Und das kann alles wieder abgesagt werden. Dafür ist reichlich Zeit. Vielleicht muss ich für manches eine kleine Gebühr bezahlen – aber die hübschen Kleider kann man auch zu anderen Gelegenheiten tragen, und die Jungs können immer einen eleganten Anzug brauchen. Das ist mir gleich. Zur Not schreibe ich einen Brief an sämtliche Gäste und teile ihnen persönlich mit, dass die Feier nicht stattfindet. Ich hab deinen Vater einmal geheiratet, ich heirate ihn nicht zum zweiten Mal. Einmal ist genug. Mein Leben lang habe ich immer das getan, was die anderen von mir wollten. Bei jedem Anlass habe ich mich verantwortungsvoll und pflichtbewusst und angemessen verhalten. Aber wenn ich mein
Leben
feiere – fünfunddreißig Jahre Ehe und drei wunderbare Kinder –, will ich kein Event im Rathaus mit Hinz und Kunz aus der Gerichtswelt. Das passt nicht. Es ist kein Symbol für das, was ich in meinem Leben geleistet habe, sondern nur für das, was mein Mann in seinem Beruf erreicht hat.«
»Wie stellst du dir die Feier denn vor?«
Erstaunt sah sie mich an, antwortete aber nicht.
»Weißt du es nicht?«
»O doch. Nur hat mich das noch nie jemand gefragt.«
»Es tut mir leid, dass ich dich nicht besser unterstützt habe. Ich war egoistisch.«
»Überhaupt nicht. Du hattest ein aufregendes Abenteuer mit deinem Leben. Das ist wichtig, glaub mir«, sagte sie wehmütig. »Wie läuft es überhaupt mit ihm?«
»Ach«, seufzte ich. »Ich weiß nicht.«
Sie sah mich an und wartete darauf, dass ich weitersprach, und nach allem, was sie vorhin über ihre Mutterrolle gesagt hatte, konnte ich mich nicht zurückhalten.
»Ich hab meinen Job verloren, mein Auto ist Schrott, ich hab einem tollen Mann weh getan, mit dem ich eine
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