Ein Moment fürs Leben. Roman
wo du bist?« Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich die Situation durchaus amüsant fand.
»Nein, er weiß es nicht, und komm bitte nicht auf die Idee, es ihm zu sagen.«
Sie ging zum Fenster und suchte einen Weg um die Couch herum, aber als sie sah, dass sie bis zum Fenstersims reichte, trat sie den Rückzug an, um es auf der anderen Seite zu versuchen.
»Mum, was in aller Welt ist denn nun eigentlich passiert?«
Als sie am anderen Ende der Couch ankam, stellte sie fest, dass ihr hier die Küchentheke den Weg versperrte. Also tat sie das, was jede normale Person außer meiner Mutter schon längst getan hätte, hob das Bein und kletterte über die Rückenlehne.
»Ich habe ein egoistisches Untier geheiratet, das ist passiert. Und du kannst ruhig lachen, ich weiß, du denkst, wir gehören zum alten Eisen, aber ich sage dir, in diesem Eisen steckt noch eine ganze Menge Leben.« Nach dieser Erklärung machte sie es sich auf der Couch bequem, kickte ihre schwarzen Lackpumps von sich und zog die Füße unter den Hintern.
»Ich hab leider keine Milch da«, sagte ich schuldbewusst. Normalerweise servierte Mum den Tee auf einem Silbertablett in ihrem feinsten Porzellan. Was ich zu bieten hatte, war bestimmt nicht angemessen.
»Schwarz ist auch gut«, antwortete sie jedoch munter und griff nach einem Becher.
Ich kletterte auf den ihr gegenüberliegenden Teil des Ls und legte die Füße auf den Couchtisch. So gemütlich hatten wir noch nie zusammengesessen.
»Dann erzähl doch mal – was ist passiert?«
Sie seufzte und blies auf ihren Tee. »Eine Menge ist passiert, aber sein Verhalten dir gegenüber war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat«, erklärte sie beherzt. »Wie kann er es wagen, so mit meiner Tochter zu sprechen? Wie kann er es wagen, so mit deinem Gast umzuspringen? Und genau das hab ich ihm dann auch gesagt.«
»Aber Mum, so redet er doch immer mit mir.«
»Nein, so nicht.« Sie sah mir in die Augen. »Bis zu diesem Moment war er fies und grob wie immer« – mir klappte die Kinnlade herunter –, »und damit kann ich umgehen, aber dann hat er eine Grenze überschritten. Es ist dieser verfluchte Hochzeitstag. Ich wollte ihn organisieren, damit wir uns näherkommen. Ich wollte, dass er ein bisschen über die letzten fünfunddreißig Jahre unserer Ehe nachdenkt und mir hilft, sie zu feiern. Stattdessen ist ein Riesentrara daraus geworden, mit lauter Leuten, die ich ehrlich gesagt nicht mal leiden kann.«
Ich schnappte erneut nach Luft. Eine Offenbarung jagte die andere, und mich faszinierten die Ansichten und das Verhalten meiner Mutter weit mehr als der Zustand ihrer Ehe, der mich nicht sonderlich interessierte. Meine Eltern waren erwachsen, und es war albern, anzunehmen, die letzten fünfunddreißig Jahre wären nur eitel Sonnenschein gewesen.
»Und seine Mutter.« Zur Veranschaulichung tat sie so, als würde sie sich die Haare raufen. »Diese Frau ist noch schlimmer als vor fünfunddreißig Jahren. Zu allem gibt sie ihren Senf dazu, und der kümmert mich, offen gestanden, einen Scheiß.«
Einen
Scheiß
?
»Ehrlich, Lucy, sie ist so unhöflich, und du bist immer so witzig mit ihr.« Sie beugte sich vor und legte die Hand auf mein Knie. »Ich wollte, mir würden auch mal solche schlagfertigen Antworten einfallen.« Sie kicherte leise. »Wie war das mit dem Stillen? Meine Güte, das war echt der Knüller, ich dachte, ihr fällt das Gebiss aus dem Mund.« Dann wurde sie wieder ernst. »Nach meiner Hochzeit wollte ich nie wieder so etwas organisieren – deine Großmutter hat ihre Nase in alles gesteckt an diesem Tag, und meine eigene Mutter hat mitgemacht. Aber den fünfunddreißigsten Hochzeitstag wollte ich für mich haben, für mich ganz allein. Als schöne Erinnerung, die ich mit meinen Kindern teilen kann.« Zärtlich sah sie mich an und griff nach meiner Hand. »Meine wundervolle Tochter. Ach, Lucy, es tut mir leid, dass ich das alles bei dir ablade.«
»Kein Problem. Mach ruhig weiter, ich freue mich.«
Überrascht sah sie mich an.
»Ich meine, ich hab nicht erwartet, dass du so was sagst. Normalerweise machst du immer so einen beherrschten Eindruck.«
»Ich weiß.« Sie biss sich auf die Lippe und sah schuldbewusst aus. »Ich weiß«, flüsterte sie noch einmal, fast ängstlich und legte den Kopf in die Hände. Dann richtete sie sich plötzlich kerzengerade auf und sagte mit fester Stimme: »Ich weiß. Und genau das muss sich in Zukunft ändern. Ich
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