Ein Moment fürs Leben. Roman
ich dir von Angesicht zu Angesicht von meinem Tag erzählen.«
Ich schwieg.
»Wir können uns irgendwo treffen, wo es voll ist, wo du oft bist, wie du willst, bring meinetwegen zehn Freunde mit, zehn große Muskelmänner. Große Männer sind übrigens nicht mein Ding, Männer sind an sich nicht mein Ding, mir wäre es lieber, du bringst keine mit, aber wenn ich dir das als Erstes gesagt hätte, hättest du bestimmt gedacht, ich will dich entführen. Was ich nicht vorhabe.« Er seufzte. »Mein Redetalent ist umwerfend, oder nicht?«
Ich lächelte. »Danke, aber ich kann nicht. Mein Bruder und meine Mutter halten mich als Geisel.«
»Das passt ja zum Rest deines Tages. Dann ein andermal? Am Wochenende vielleicht? Du wirst sehen, an mir ist mehr dran als nur ein hübsches linkes Ohr.«
Schon wieder musste ich lachen. »Don, du hörst dich echt nett an …«
»Oh-oh.«
»Aber ich stehe im Moment ehrlich gesagt völlig neben mir.«
»Na klar, das würde jedem so gehen nach dem, was du heute erlebt hast.«
»Nein, nicht nur deswegen. Sondern im Allgemeinen.« Müde rieb ich mir das Gesicht, und mir wurde klar, dass es mir entgegen meiner eigenen landläufigen Überzeugung wirklich schlechtging. »Ich erzähle einer falschen Verbindung mehr über mich als meiner Familie.«
Er lachte leise, und einen Moment glaubte ich seinen Atem an meinem Ohr zu spüren. Ich schauderte. Es fühlte sich an, als würde er direkt neben mir stehen.
»Das ist doch bestimmt ein gutes Zeichen, oder nicht?«, meinte er zuversichtlich. »Ach, komm schon, wenn sich herausstellt, dass ich ein hässliches Ekelpaket bin, das du nie wiedersehen möchtest, dann kannst du einfach gehen, und ich belästige dich auch bestimmt nie wieder. Oder wenn sich herausstellt, dass du ein hässliches Ekelpaket bist, dann musst du dir auch keine Sorgen machen, denn dann will
ich
dich sowieso nie wiedersehen. Falls du allerdings auf der Suche nach einem hässlichen Ekelpaket bist, wäre es sinnlos, dass du dich mit mir triffst, denn das bin ich nicht.«
»Ich kann nicht, Don. Tut mir leid.«
»Aber du kannst doch jetzt nicht einfach mit mir Schluss machen, ich weiß ja nicht mal deinen Namen.«
»Ich hab doch gesagt, ich heiße Gertrude.«
»Gertrude«, wiederholte er ein bisschen niedergeschlagen. »Na gut, aber vergiss nicht, dass du mich zuerst angerufen hast.«
»Da hab ich mich verwählt«, lachte ich.
»Okay, okay«, meinte er abschließend. »Ich lass dich in Ruhe. Und bin froh, dass dir nichts passiert ist.«
»Danke, Don. Tschüss.«
Wir legten auf. Ich lehnte mich ans Geländer und schaute hinunter auf das dunkle Wasser, in dem sich die Lichter des Gebäudes spiegelten. Dann piepte mein Telefon.
Ein Abschiedsgeschenk.
Ich scrollte weiter nach unten.
Zwei wunderschöne blaue Augen blickten mich an. Ich sah sie so lange an, bis ich mir fast einbildete, sie würden mir zuzwinkern.
Als ich wieder zu Mum und Riley hineinging, waren sie wenigstens so anständig, mir keine Fragen zu stellen, aber während Riley seine Autoschlüssel holte, um mich heimzufahren, ergriff Mum die Chance zu einem kleinen Vieraugengespräch.
»Lucy, ich hatte keine Gelegenheit, mit dir zu reden, nachdem du letzte Woche vom Lunch weggegangen bist.«
»Ich weiß. Tut mir leid, dass ich so überstürzt los bin«, sagte ich. »Das Essen war lecker, mir ist nur plötzlich eingefallen, dass ich eine Verabredung hatte.«
Mum runzelte die Stirn. »Wirklich? Ich hatte nämlich das Gefühl, dass du gegangen bist, weil ich die Formulare für das Treffen mit deinem Leben unterschrieben habe.«
»Nein, nein, das war es nicht«, unterbrach ich sie. »Echt nicht. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber es war irgendwas Wichtiges. Dummerweise hatte ich beide Termine zugesagt, du weißt ja, wie vergesslich ich manchmal bin.«
»Oh. Ich war sicher, dass du sauer auf mich bist.« Sie musterte mich wieder. »Es ist okay, wenn du mir sagst, dass du sauer auf mich warst.«
Worauf wollte sie denn jetzt wieder hinaus? Solche Dinge gaben Silchesters niemals preis.
»Nein, ich war nicht sauer. Du hast es doch nur gut gemeint.«
»Ja«, antwortete sie erleichtert. »Das stimmt. Ich habe endlos darüber gegrübelt, was das Beste wäre. Wochenlang lagen die Formulare bei mir herum, bis ich sie endlich unterschrieben habe. Ich dachte immer, wenn irgendwas mit dir los ist, kannst du doch zu mir kommen und mit mir darüber reden. Auch wenn ich weiß, dass Edith dir so gut helfen
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