Ein Moment fürs Leben. Roman
wie Steve mir die Pistole an den Kopf gehalten hatte. Woran Riley dachte, wollte ich lieber nicht wissen.
»Wo ist ihre Mutter denn?«
»Im Krankenhaus. Ich weiß nicht, in welchem, und ich weiß auch nicht, was sie hat. Aber es ist was Ernstes.«
»Warum war sie dann noch nicht bei ihr?«
»Weil sie sagt, sie will ihr Baby nicht allein lassen.«
»Hast du ihr angeboten, auf es aufzupassen?«
»Ja.«
»Nett von dir.«
»Ich bin kein durch und durch schlechter Mensch.«
»Ich glaube nicht mal, dass du teilweise schlecht bist«, entgegnete er und sah mich an. Da ich seinen Blick nicht erwiderte, konzentrierte er sich schließlich wieder auf die Straße. »Warum nimmt sie das Baby denn nicht mit ins Krankenhaus? Das verstehe ich nicht.«
Ich zuckte die Achseln.
»Du weißt es. Komm schon, sag es mir.«
»Nein, keine Ahnung«, sagte ich und starrte aus dem Fenster.
»Wie alt ist das Baby denn?«
»Weiß ich nicht.«
»Ach komm, Lucy.«
»Ich weiß es ehrlich nicht. Sie fährt es im Buggy rum.«
Er sah mich an. »Es?«
»Na, das Baby. Bis Kinder ungefähr zehn sind, kann ich nicht unterscheiden, ob sie Jungs oder Mädchen sind.«
Riley lachte. »Akzeptiert ihre Mutter nicht, dass sie das Kind allein erzieht? Ist das das Problem?«
»Irgendwas in der Art«, antwortete ich und versuchte mich auf die Welt zu konzentrieren, die vor dem Fenster vorüberzog, und nicht auf die Pistole, die ich ständig auf mich zielen sah.
Riley wohnte zwei Kilometer östlich vom Zentrum in Ringsend, einem Stadtteil am Wasser, in einem Penthouse mit Blick über Boland’s Mills am Grand Canal Dock.
»Lucy«, sagte meine Mum, als ich zur Tür hereinkam, musterte mich mit großen, besorgten Augen und drückte mich an sich. Aber ich erwiderte ihre Umarmung nicht.
»Keine Sorge, Mum, ich war ja nicht mal im Büro«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Ich hatte was zu erledigen und hab den ganzen Spaß verpasst.«
»Wirklich?«, fragte sie, und Erleichterung breitete sich in ihrem Gesicht aus.
Riley starrte mich an, was mir ein unbehagliches Gefühl machte. Überhaupt hatte er sich in den letzten Tagen sehr seltsam benommen, nicht mehr wie mein Bruder, den ich kannte und liebte, sondern eher wie jemand, der wusste, dass ich log.
»Na, egal, jedenfalls hab ich dir das hier mitgebracht«, sagte ich und holte hinter meinem Rücken den Fußabstreifer hervor, den ich vor der Tür von Rileys Nachbarn hatte mitgehen lassen.
Ich bin echt gut in Matte!
stand darauf, und er sah so gut wie neu aus.
Mum lachte. »Ach Lucy, du bist so lustig, herzlichen Dank.«
»Lucy«, sagte Riley nur tadelnd.
»Ach, reg dich nicht auf, Riley, das war doch nur eine Kleinigkeit.« Ich klopfte ihm beschwichtigend auf den Rücken und ging weiter in die Wohnung. »Ist Ray da?« Ray, Rileys Mitbewohner, war Arzt und nie gleichzeitig mit meinem Bruder zu Hause, weil sie beide zu entgegengesetzten Zeiten arbeiteten. Wenn Ray doch einmal auftauchte, flirtete Mum hemmungslos mit ihm. Einmal hatte sie mich allerdings auch schon gefragt, ob er Rileys Partner war. Aber das war Wunschdenken ihrerseits – ein trendig schwuler Sohn würde sie nie mit einer anderen Frau ersetzen.
»Ray ist bei der Arbeit«, erklärte Riley.
»Also ehrlich, habt ihr beiden denn nie ein bisschen Zeit füreinander?«, fragte ich und musste mir das Lachen verkneifen, denn Riley machte ein Gesicht, als wollte er mich mit einem Double Leg Takedown zu Boden werfen, wie er das gern gemacht hatte, als wir jünger gewesen waren. Ich wechselte schnell das Thema. »Wonach riecht es denn hier?«
»Pakistanisches Essen«, antwortete Mum nervös. »Wir wussten nicht, was du möchtest, also haben wir die halbe Speisekarte bestellt.« Wie immer war Mum total aufgeregt, weil sie sich in der Wohnung ihres gutaussehenden, unverheirateten Sohns befand, wo sie lauter exotische Dinge tun konnte, beispielsweise pakistanisches Essen bestellen,
Top Gear
anschauen oder per Fernbedienung die Farbe des elektrischen Kaminfeuers verändern. In der Nähe meiner Eltern gab es keine pakistanischen Restaurants, und Vater hatte ohnehin kein Interesse, sie zu begleiten, und auch keine Lust, im Fernsehen etwas anderes als CNN anzuschauen. Wir öffneten eine Flasche Wein und setzten uns an einen Glastisch, von dem aus man durch die bodentiefen Fenster den Fluss überblicken konnte. Die ganze Umgebung glänzte, schimmerte und funkelte im Mondlicht.
»Also«, sagte Mum, und ihrem Ton entnahm ich, dass sie
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