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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Brust geschossen, erschütterte seine Schultern in dem lodenartigen Uniformrock. Kokosch sah ruhig auf dieses Gemetzel, ein Veteran des Lebens.
    »Zu Ihrer früheren Erzählung möchte ich mir erlauben, etwas zu bemerken«, sagte er nach einer kleinen Weile, ohne dem Zustande des anderen weitere Beachtung zu schenken. »Der Zug fuhr von Stuttgart in Richtung Heilbronn selbstverständlich durch den rechten Stollen des Kirchheimer Doppeltunnels. In unserem Waggon befand sich der Gang rechts, das Fenster, durch welches Louison Veik in ihrem Abteil getötet wurde, links, im Sinne der Fahrtrichtung. Der Tod des Mädchens ist meiner Ansicht nach so eingetreten, daß sie – einen Augenblick bewußtlos hinaus – und sozusagen voraushängend – mit der Stirn gegen eine jener Mauerkanten raste, die sich bei den Durchgängen zum Nachbarstollen befinden. Ich sah das selbst, als ich im Tunnel war.«
    »Sie haben recht«, sagte Botulitzky und richtete sich auf. Er war jetzt sehr blaß, aber ruhig. »Sonst hätte – etwa durch Anstreifen – eine Verletzung ganz anderer Art entstehen müssen, auch wäre Louison Veik nicht in dieser Weise, wie es geschah, auf ihren Sitz zurückgeworfen worden. Ich war gleichfalls im Tunnel, allerdings nicht weit drinnen. Sie werden es nun hören. Denn – natürlich will ich Ihnen durchaus alles erzählen. Welchen Sinn hätte sonst dieses Zusammentreffen für mich; viel ist nicht zu sagen, ich werde bald zu Ende sein.«
    Er versuchte, Castiletz die Lage seines Lebens, den Stand seiner Lebensuhr zur kritischen Zeit klarzumachen, soweit man so etwas einem anderen Menschen klarmachen kann; zudem, Botulitzky war kein schlechter Erzähler: er beherrschte auf jene Art seine Muttersprache, wie sie eben, seltsam genug, nur derjenige haben kann, welcher ihr vielgestaltiges Wesen an den ärmeren und entschlosseneren Sprachformen der Alten zu messen Gelegenheit hatte. »Mein Onkel in Würzburg war am Ende nichts anderes mehr als eine Geschwulst in meinem Gewissen«, sagte er, »und unter solchen Umständen zu studieren, wurde unmöglich.« Vom ersten Rigorosum war noch keine einzige Prüfung bestanden, nach so vielen vergangenen Semestern; dem Oheim, der in Würzburg auf nichts anderes wartete denn auf wirkliche Ergebnisse, deren Fehlen in irgendeiner Form plausibel zu machen: dies der Zweck jener unseligen Sommerreise des Jahres 1921. Botulitzky sagte (mit Bezug auf Wien, wo er zwei Semester verbummelt hatte): »Heute noch, vom Führerstand, wenn ich diese zahllosen Lichter der Stadt sehe, diesen zwinkernden irdischen Sternenhimmel, muß ich daran denken, wie wir dort in einer Weinschenke irgendwo an den Hügeln und Hängen über dem Häusermeer saßen, unsere Kommerslieder singend – es war ganz das gleiche: ein gegitterter Rost endloser leuchtender Straßenzüge. Da könnte einem so was anfliegen von der Einheit allen Lebens überall und überhaupt! Na ja.«
    Er hatte sodann sein Glück an der Münchener Universität versucht und anderswo noch: nur nicht in Würzburg. Hier wäre das Wohnen beim geldgebenden Oheim unvermeidlich, der Zustand auf jeden Fall unerträglich geworden. »Dabei müssen Sie bedenken, Herr Castiletz«, sagte er, »daß dem allen der Boden bereits entzogen war. Ich konnte damals schon kein Buch mehr ansehen, nicht einmal von außen.«
    »Ich wußte, daß – irgend etwas geschehen würde«, setzte Botulitzky hinzu, nach einer kleinen Pause.
    Nun, es geschah ja. Die abenteuerliche Möglichkeit, für eine Zeit sich unabhängig und entschlußfrei zu machen, lag dort beim Lauffener Tunnel in dieser Nacht, glühend wie der Schatz im Berg zu Walpurgis. Sie gingen über den Heilbronner Sportplatz und querten Böckingen, den längeren Weg über Klingenberg und Nordheim wählend: jedoch konnte auf solche Art das Durchschreiten der Stadt Heilbronn selbst vermieden werden, mit den Koffern in der Hand. »Ich war übervorsichtig«, sagte er, »um nur in keiner Weise aufzufallen und irgend jemand im Gedächtnis haften zu bleiben.« Das Tragen der Koffer in der Hand wurde übrigens unhaltbar; in dem seinen befand sich glücklicherweise ein geräumiger Rucksack für die Ferien, welcher eines der beiden Gepäckstücke zur Not faßte. So wurde Margit entlastet. »Den Schädel warf ich bei Klingenberg, wo der Neckar Bahn und Straße wieder berührt, ins tiefe Wasser, ihn weit ausschwingend, wie einen Diskus. Der mußte weg, da riskierte ich’s sogar, irgendwem aufzufallen, freilich mit Vorsicht. Er

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