Ein Mord den jeder begeht
in deren Wohnung wir uns hier befinden – und ich bemerkten das und schauten unverzüglich durch die Glasscheibe. Die Reisende stand, halb von uns abgewandt, vor der im Sinne der Fahrtrichtung rückwärtigen Polsterbank nahe beim Fenster, eine offene Kassette vor sich hinhaltend, welche sie wohlgefällig hin und her wandte. Es blitzte heftig im Licht, wir konnten gut sehen, was darin war: Schmuck bis an den Rand, übereinandergepreßt, ohne jedes Etui. Dieser Anblick dauerte etwa fünf Sekunden. Dann – und gerade jetzt wandte sich Louison Veik etwas mehr dem Fenster zu – erschien hell beleuchtet der von Ihnen am Stock gehaltene, beturbante Schädel, verschwand jedoch sogleich wieder. Mit Fräulein Veik geschah nun folgendes: entweder verlor sie überhaupt das Bewußtsein, oder sie war von einer äußersten Übelkeit erfaßt – kurz, sie schrie auf und fiel gleichzeitig zusammen, und zwar gegen das Fenster zu, in der Fahrtrichtung, also, daß ihr Oberkörper durch eine Sekunde hinaus und gewissermaßen voraus hing: unmittelbar danach wurde sie mit furchtbarer Wucht zurückgeschleudert, wir sahen einen ganzen roten Schwall von Blut über ihr Gesicht sinken, während ein offenes Handköfferchen, das auf der rückwärtigen Polsterbank gestanden hatte, durch den fallenden Körper herabgedrängt und umgestürzt wurde, so daß der Inhalt überall umherrollte. Was ich jedoch sofort sah, war, daß die Kassette sich noch immer in den bereits regungslosen Händen der Toten befand – jedoch jetzt vollkommen leer. In dem beschriebenen Augenblicke verließ der Zug den Tunnel. Der Vorgang, wie wir ihn beobachteten, spielte sich innerhalb von etwa zwölf bis fünfzehn Sekunden ab. Es war für mich auf der Hand liegend, daß der ganze Schmuck hinausgestreut worden sei, entweder im allerletzten Stück des Tunnels oder zum Teil schon außerhalb desselben.«
Castiletz sah das Derainauxsche Porträt Louisons vor sich, in dem kleinen Raum mit den topasfarbenen Lampenschirmen. Der Schmerz war kurz und stark, sozusagen genau. Er verging sogleich wieder. Auch diese Welt der Gefühle (während der letzten Zeit, infolge so vieler darauf gerichteter Tätigkeiten, kaum mehr erlebt) versank, für immer, und wurde somit überschaubar.
»Sie schrie?« fragte er.
»Ja, kurz und stark. Es klang, wie wenn man einen Teller zerschlägt.«
»Dann habe ich mich also nicht getäuscht, damals«, sagte Conrad.
Botulitzky fuhr fort: »Ich wußte, daß ich nach dieser Dummheit um mein Leben zu kämpfen hatte, ich handelte geradezu hellsichtig; sogleich öffnete ich die Schiebetür des Abteils, in welchem die Tote lag – die Türe war nicht verriegelt – brachte den Vorhang, der sich vom Messingdruckknopf gelöst hatte, wieder in Ordnung, schob die Türe zu und sperrte sie mit einem Coupeschlüssel, den ich stets bei mir trug, ab. Dann verständigte ich mich mit Margit – sie hielt sich unerhört tapfer! – bei der nächsten Station auszusteigen. Das war Heilbronn, es fehlten kaum fünfzehn Minuten bis dahin. Gleichwohl nahmen wir ruhig und bequem Platz. Ich mußte immerfort gähnen, ohne im geringsten schläfrig zu sein. Das ist mir erinnerlich. Den präparierten Schädel hätte ich am liebsten beim Fenster hinausgeworfen, statt ihn einzupacken. Während wir durch diese qualvollen Minuten da saßen, fiel mir ein, daß ich gut daran getan hätte, im Nachbarabteil das Licht auszuschalten. Hierfür war es nun zu spät. Der Zug fuhr aus irgendwelchen Gründen ganz langsam dahin, wahrscheinlich war die Strecke nicht frei, wir brauchten um einiges länger bis Heilbronn, als normal gewesen wäre. Dort stiegen wir also aus. Und gingen nicht durch die Sperre. Die Fahrkarten reichten bis Würzburg. Ich hielt das unbedingt für richtig und wichtig, um nicht aufzufallen, etwa durch das Markierenlassen einer Fahrtunterbrechung oder dergleichen. Ich wollte mit keinem Bahnbeamten jetzt irgendwie zu tun haben. Wir schlichen uns über einen anderen Teil des Bahnhofs hinaus und hatten dabei unerhörtes Glück. Nun, denken Sie: in der Zeitung las ich, daß niemand an der ganzen Strecke beobachtet worden sei, der diesen Zug mit einem weiter reichenden Fahrtausweise irgendwo verlassen hätte!«
»Sie lasen das Ganze dann in der Zeitung?« fragte Conrad.
»Ja, freilich! Schon am nächsten Abend. Da wußte ich bereits, wen wir umgebracht hatten, Herr Castiletz. Jedoch bis dahin geschah noch einiges, was nur dann ganz verständlich ist, wenn man die Lage kennt, in
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