Ein Mord wird angekündigt
legte großen Wert auf ihr Aussehen. Wenn ihre Mutter noch gelebt hätte oder ihr Vater vernünftiger gewesen wäre, hätte man sie vielleicht schon lange vorher operi e ren lassen. Aber Doktor Blacklock war ein rückständiger, störrischer, engstirniger Mann. Er hielt nichts von diesen Operationen. Charlotte musste ihm glauben, dass nichts anderes zu machen sei, als mit Jod zu pinseln und b e stimmte Medikamente einzunehmen. Sie glaubte ihm, und ich nehme an, dass auch ihre Schwester mehr Ve r trauen in seine ärztliche Kunst setzte, als er verdiente.
Charlotte war also überzeugt, dass ihr Vater sie richtig behandle. Sie verkroch sich mehr und mehr und weigerte sich schließlich, da der Kropf ständig wuchs, überhaupt noch Menschen zu sehen. Sie war dabei aber ein wirklich gütiger, liebevoller Mensch.«
»Das ist eine merkwürdige Beschreibung für eine Mö r derin«, warf Edmund ein.
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Miss Marple. »Schw a che und zugleich gütige Menschen sind oft heimtückisch. Und wenn sie mit ihrem Dasein unzufrieden sind, wird die geringe moralische Kraft, die sie besitzen, völlig u n tergraben.
Letitia Blacklock war eine ganz andere Persönlichkeit. Inspektor Craddock hat mir gesagt, dass Belle Goedler sie als wirklich guten Menschen bezeichnete, und ich glaube, dass sie das auch war. Sie liebte ihre Schwester, sie schrieb ihr regelmäßig lange Briefe, in denen sie ausfüh r lich ihr Leben schilderte, damit ihre Schwester nicht vö l lig den Kontakt zur Welt verliere. Sie war sehr unglüc k lich über den morbiden Zustand, in den Charlotte mehr und mehr geriet.
Als Doktor Blacklock starb, gab Letitia ohne zu zögern ihre Stellung bei Goedler auf und widmete sich ganz ihrer Schwester. Sie ging mit ihr in die Schweiz, um dort med i zinische Kapazitäten zu konsultieren; der Kropf war zwar schon in einem fortgeschrittenen Stadium, aber wie wir wissen, gelang die Operation dennoch. Die Entstellung war verschwunden, die Narbe leicht durch ein Perle n halsband zu verbergen.
Als der Krieg ausbrach, blieben die beiden Schwestern, da die Rückkehr nach England schwierig war, in der Schweiz und betätigten sich beim Roten Kreuz und and e ren Wohltätigkeitsorganisationen.
Gelegentlich erhielten sie Nachrichten aus England, u n ter anderem werden sie gehört haben, dass Belle Goedlers Zustand bedenklich geworden war. Bestimmt hatten sie Pläne gemacht für die Zeit, da das Riesenvermögen Let i tia zufiele – das ist nur zu menschlich …
Aber ich glaube, dass diese Aussicht Charlotte viel mehr bedeutete als Letitia. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sich Charlotte in dem Bewusstsein bewegen, ein normaler Mensch zu sein, eine Frau, die nicht mit A b scheu oder Mitleid betrachtet wird. Endlich würde sie das Leben genießen, ein jahrzehntelanges, trostloses Dasein vergessen können. Sie würde reisen, ein prächtiges Haus haben, einen herrlichen Park, Kleider und Juwelen, würde Theater und Konzerte besuchen, jeder Laune frönen, es schien ihr, als würde für sie ein Märchen Wirklichkeit.
Und dann bekam Letitia, die kräftige, kerngesunde Let i tia, eine Lungenentzündung und starb innerhalb einer Woche! Charlotte hatte nicht nur ihre Schwester verloren, sondern der ganze wunderbare Traum für ihre Zukunft war vernichtet. Ich glaube, dass sie deswegen Letitia be i nahe böse war. Warum musste Letitia sterben, gerade als sie die briefliche Nachricht erhalten hatte, dass Belle Goedler nicht mehr lange zu leben hätte? Vielleicht nur noch einen Monat, und das Geld hätte Letitia gehört, und dann, nach Letitias Tod, ihr …
Nun wirkte sich meiner Ansicht nach der Unterschied in den Charakteren der beiden Schwestern aus. Charlotte empfand das, was sie tat, gar nicht als Unrecht. Das Geld sollte Letitia zufallen. In wenigen Monaten wäre Letitia in den Besitz des Geldes gelangt, und sie betrachtete sich als eins mit Letitia. Wahrscheinlich kam ihr die Idee erst, als der Arzt oder sonst jemand nach dem Vornamen ihrer Schwester fragte, und da wurde ihr plötzlich klar, dass sie allen nur als die beiden Misses Blacklock bekannt gew e sen waren.
Warum sollte nicht Charlotte gestorben sein und Letitia noch leben? Vielleicht war es nur ein Impuls, vielleicht war es nicht planvoll überlegt. Jedenfalls wurde Letitia unter Charlottes Namen begraben. ›Charlotte‹ war tot, ›Letitia‹ kehrte nach England zurück.
Nun wirkte sich Charlottes angeborene Tatkraft, die so viele Jahre
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