Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
kennen gelernt. Ich fühlte eine tiefe Dankbarkeit und erkannte, dass auch dies ein Geschenk meiner Pilgerschaft war.
Nach dem Essen machten Hansi und ich uns auf, einen der Höhepunkte in Finisterre, den Sonnenuntergang am Cap, anzusehen. Irgendwann war Martin an unserer Seite.
»Schaut euch mal diesen tollen Ausblick auf die gegenüberliegende Costa Celta an«, sagte ich voller Begeisterung.
»Ja, wirklich traumhaft«, stimmte Hansi zu. »Ich finde besonders die Lichter, aufgereiht wie an einer Perlenkette, wunderschön.«
»Aber bedenkt doch, dass in den Häusern auch Mörder und Diebe leben«, sagte Martin.
»Und die Küste ist noch vom Öl der letzten Tankerkatastrophe verseucht«, sprudelte es aus ihm heraus.
Ungehalten antwortete ich: »Ich dachte, du hättest während deiner Pilgerschaft dazugelernt. Doch anscheinend siehst du immer noch ausschließlich das Negative. Ist dir überhaupt bewusst, dass diese Negativität in dir ist und sich nicht in den Dingen befindet?«
»Aber Mano, du musst doch die Realität sehen. Es gibt Mörder und Verbrecher. Und es gab die Ölkatastrophe.«
»Ich weiß, dass es Mörder und Verbrecher gibt. Ich weiß auch, dass es die Ölkatastrophe gegeben hat. Doch erstens muss ich mich nicht ständig mit Mördern und Verbrechern beschäftigen, und zweitens sind die Küsten hier wieder sauber. Ich möchte mithelfen, dass es in Zukunft keine Mörder und Verbrecher mehr in unserer Welt gibt. Wenn ich mich ausnahmslos mit den schlechten Seiten des Lebens beschäftige, kann ich nicht glücklich leben und auch nichts zum Besseren beitragen. Außerdem habe ich genug von deinen negativen Äußerungen. Also verschone uns bitte mit deinen Worten, ansonsten kannst du alleine weitergehen.«
Hansi schüttelte den Kopf. Martin, der mir antworten wollte, machte ich mit einem unmissverständlichen Blick klar, dass es nun reichte. Wir gingen eine Weile schweigend. Meine Aufgeregtheit legte sich beim Anblick des Meeres. Die Sonne stand tief am Horizont, als wir das Cap erreichten. Der Sonnenuntergang war fantastisch. Nur Martin vermisste beim Fotografieren einen Vordergrund. Auf dem Rückweg nach Finisterre war Martin nicht mehr an unserer Seite, was uns nicht besonders traurig stimmte. Beim Frühstück am nächsten Morgen bedankte ich mich bei Estibaliz für ihre liebenswürdige Art und all das Gute, das sie und ihre Familie mir hatten zu kommen lassen. Ich sagte ihr, dass sie und ihre Familie den Pilgern viel gäben und sie sehr sympathisch seien. Estibaliz schüttelte vehement ihren Kopf und gab das Kompliment sogleich zurück. Die Pilger seien sympathisch und sie verrichteten lediglich ihre Arbeit. An diesem Tage verlängerte ich nochmals um zwei Tage. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das zwischen den Pilgern und der Ancora-Familie stattfand.
Ich zog meine Wanderschuhe an und machte mich mit gemischten Gefühlen auf zum Mariquito, wo mir der Abschied von Nicola und Michael bevorstand. Schon als ich das Lokal betrat, mich zu den beiden an den Tisch setzte und in ihre Augen schaute, wurde ich traurig. Wir redeten über alles Mögliche, vermieden es jedoch über den bevorstehenden Abschied zu sprechen. Die Stimmung lockerte sich ein wenig, als Hansi erschien. Bald stand Michael auf und ging zur Toilette. Mein Magen reagierte mit einem unangenehmen Druck. Ich wünschte diesen Abschied schnellstens hinter mich zu bringen. Als Michael von der Toilette kam, stand ich vom
Tisch auf. Mit feuchten Augen kam er auf mich zu, umarmte mich und ließ seinen Tränen freien Lauf. Auch ich heulte wie ein kleines Kind. Es tat weh. Wir drückten uns so fest, als wenn wir uns nicht wieder loslassen wollten. »Machs gut«, sagte ich.
»Wir sehen uns bestimmt wieder.«
Michael brachte kein Wort hervor. Ich löste mich von ihm, nahm Nicola, die neben Michael stand, drückte sie, wünschte ihr das Allerbeste für ihr weiteres Leben und verließ schnellen Schrittes die Bar. Hansi würde ich später noch sehen.
Den lieben langen Tag begleitete mich Michaels lautes Schluchzen und versetzte mir immer wieder Stiche ins Herz. Hansi wollte nach Muxía wandern und dort vielleicht übernachten. Ich ging ins Ancora, packte meinen Rucksack und lief ohne bestimmtes Ziel los, um meine Gefühlswelt zu beruhigen. Von einer Anhöhe aus hatte ich eine herrliche Aussicht auf Finisterre, das Meer und die beiden Sandstrände. Im gleichen Moment, als sich meine Gedanken auf eine Auswanderung nach Finisterre
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