Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
Dankbarkeit für überwundene Krankheiten, Genesungen von Freunden oder Familienangehörigen waren häufig Gründe für die Pilgerschaft. Ein fünfzigjähriger Australier pilgerte und betete für einige seiner Freunde, die ernsthaft erkrankt waren. Aber es gab auch andere Gründe. Ein junger Pilger erzählte mir, er habe sich aus sportlichen Gründen auf den Jakobsweg begeben. Nach den ersten Tagen hatte er festgestellt, dass die Pilgerschaft ihm zu seiner Verwunderung mehr, viel mehr anzubieten hatte als Sport.
Während ich mich mit meinem Gesprächspartner unterhielt, gesellten sich ein deutscher Pilger und eine junge deutsche Pilgerin zu uns an den Tisch. Ich fand die Ungezwungenheit unter Pilgern schön. Die Fischsuppe und der frische Fisch, der direkt von der Angel in die Pfanne kam, waren einfach Spitze. Der selbstgebackene Kuchen zum Nachtisch war ebenfalls nicht zu verachten. Nach dem Essen verlängerte ich meinen Aufenthalt um weitere zwei Tage. Natürlich buchte ich Halbpension, weil ich der festen Überzeugung war, in Finisterre kein besseres Essen vorzufinden. In den folgenden Tagen bekam ich das Gefühl, in diesem Hotel reichlich beschenkt zu werden. Die freundliche und liebevolle Art, wie die Ancora-Familie ihre Gäste betreute und versorgte, bestätigte mir dies ein ums andere Mal. Ich mochte die Familie sehr gerne und fühlte mich seit dem ersten Tage wie zu Hause im Ancora, das auf Deutsch »Anker« bedeutet. Irgendwie war es bezeichnend, zum Ende meiner Pilgerschaft in einem Hotel abgestiegen zu sein, das den Namen »Anker« trug. Ich hatte den Anker ausgeworfen, für wie lange, wusste ich nicht.
»Wir sind nicht hier um zu leiden, sondern das Leid zu erlösen.«
Margarethe Habermann
16 Der Bruder
Langsam öffnete ich meine Augen, schaute mich im Zimmer um. Mein Leben fühlte sich gut an. Die Sonne war bereits aufgegangen. Es war noch früh. Ich beschloss, noch nicht aus dem warmen Bett zu steigen, nahm mein Tagebuch und las. Las und staunte, was ich alles hatte erleben dürfen in den letzten Wochen. Während meiner langen Wanderschaft hatte ich nicht die geringsten Probleme mit meiner Gesundheit gehabt. Nun, da ich rastete, wurde mein Husten immer stärker. Verarbeitete mein Körper etwas? Ich stand auf und ging unter die Dusche. Mit einer gewissen Vorfreude stieg ich die Treppe herunter ins Restaurant, wo ich mit einem Lächeln von der hübschen Spanierin, die mich am Vortag an der Rezeption empfangen hatte, begrüßt wurde. Während des Frühstücks hörte ich des Öfteren, wie sie bei ihrem Namen »Estibaliz« gerufen wurde. Sie war die Tochter von Manolo, dem Besitzer des Hotels, und hatte eine achtjährige Tochter, die ebenfalls auf den Namen Estibaliz hörte.
In unmittelbarer Nähe vom Hotel Ancora erledigte ich meine Einkäufe in einem Lebensmittelgeschäft, das von einem freundlichen Ehepaar mit dem Namen Santamaría geführt wurde. Der Besitzer erzählte von arbeitsreichen Jahren in Frankfurt. Weil ich ernsthaft darüber nachdachte, mich in Finisterre niederzulassen, stellte ich ihm einige Fragen über die Mietverhältnisse in seinem Heimatort. Immer wieder hielt ich Ausschau nach Nicola und Michael, als ich Finisterre und die nähere Umgebung erkundete. Mich beeindruckte die Bar Frontera, die von einem liebenswürdigen, stets hilfsbereiten sechzigjährigen Manuel geführt wurde, der nicht nur deutsch sprach, sondern auf seinen Seereisen rund um den Globus noch viele andere Sprachen gelernt hatte. Im Frontera, wo viele Pilger verkehren, außergewöhnliche Gespräche geführt werden und gutes Essen serviert wird, fühlt sich jeder wie zu Hause. In der ursprünglichen Bar La Galeria machte ich die Bekanntschaft mit dem Besitzer Roberto, der den Camino schon einige Male bewältigt hatte, und bei dem die Gäste durch seine humorvolle Art und gute Musik immer bestens unterhalten werden.
Das Abendessen nahm ich mit vielen anderen Pilgern im Restaurant Ancora ein. Anschließend ging ich zum Strand Mar de Fora, der sich einige Gehminuten vom Hotel befindet, um mir den Sonnenuntergang anzusehen. Es war ein wunderschöner milder Abend. Ich legte mich in den Sand und bestaunte die langsame Reise der Sonne ins Meer. In der Luft lag ein süßlich herber Duft, den der Wind von den Kräutern der Dünen her wehte.
Nachdem die Sonne verschwunden war, um ihre Dienste auf der anderen Hälfte unserer Erde aufzunehmen, entschloss ich mich ins Ancora zu gehen, noch ein Glas Wein zu trinken
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