Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
meinen Bruder zu finden. — Hansis Worte waren meine ersten Gedanken am Morgen. Ich hatte ihn vom ersten Augenblick an gemocht. Nun konnte ich Bernds Worte nachvollziehen. Ja, dachte ich, er ist ein ganz besonderer Mensch. Ich glaubte nicht, dass es Zufall war, Hansi, Nicola und Michael in dem Restaurant angetroffen zu haben, wo ich ursprünglich nicht hin wollte. Mein Bauch-Gefühl hatte mich zu ihnen geführt. Das war keine zufällige Begegnung. Genauso wenig wie die in Pamplona, als ich mit Bernd, Yajaira und Paula gemeinsam im Restaurant das sichere Gefühl hatte, dass wir an diesem Abend zusammengeführt worden waren. War es Zufall, dass wir alle vier, zu unterschiedlichen Zeiten in Cizur Menor ankommend, kein Bett bekommen hatten? War es Zufall, dass wir zur selben Zeit auf dem Jakobsweg waren? War es Zufall, dass ich am 28. April 2005 in St.-Jean-Pied-de-Port gestartet war, und nicht im Jahr 2004 oder Mitte April 2005, wie ich es geplant hatte?
Im Mariquito setzte ich mich zu Nicola und Michael, die Kaffee tranken. Minuten später erschien Hansi, der mir so vertraut war, als wenn wir uns seit ewigen Zeiten kennen würden. Er strahlte übers ganze Gesicht und erzählte voller Stolz von seiner Familie, die ihn sicher vermisste. Ihm war sein Glück anzusehen. Ich freute mich für ihn und seine Familie. Hansi hatte noch keine Nachricht von Bernd und Yajaira.
In Finisterre tauchten immer mehr mir bekannte Pilger auf. Die meisten blieben einen Tag, wenige länger. Ich stellte fest, dass das Ende der Pilgerschaft für Peregrinos nicht einfach war. Sie haben Dinge erlebt, die neu für sie waren. Das Erlebte braucht Zeit, es arbeitet in ihnen. Es ist nicht einfach mit all den Emotionen umzugehen. Abschiede standen bevor. Abschiede von Menschen, die sie in ihr Herz geschlossen hatten und wahrscheinlich nie wieder sehen würden. Und dann die Frage: »Was mache ich, wenn ich wieder zu Hause bin?« Wird mein Leben sich verändern? Und wenn ja, in welcher Form? Wo werden meine neuen Erfahrungen mich hinführen? Neues bereitet den Menschen oft Angst. »Keiner kommt so zurück, wie er aufgebrochen ist. Der Weg verändert Menschen.« Sätze, die ich oft in Büchern über Pilgerschaften gelesen hatte.
Nach und nach löste sich die Runde auf. Ich spazierte zum Hafen, setzte mich auf eine Bank und schaute mir das ruhige, bedächtige Treiben in Finisterre an. Die Uhren gingen hier am Ende der Welt anders. Das Leben verlief nicht so hektisch wie in Deutschland. Die Menschen hatten noch Zeit, oder sie nahmen sie sich. Ich hasste Hektik, viele Autos, das Gefühl keine Zeit zu haben, gedrängt zu werden, weil irgendein Auftraggeber glaubte, keine Zeit zu haben.
In mir war eine Vorfreude auf Bernd und Yajaira, die nicht wussten, dass mir Hansi begegnet war. Immer wenn ein Bus in Finisterre an mir vorüber fuhr, hielt ich Ausschau nach ihnen. Gegen Mittag ging ich zum Hafenrestaurant und war froh, als Hansi, Michael und Nicola eintrafen. Nun war ich wieder unter Menschen, mit denen ich meine Empfindungen teilen konnte und die mich verstanden.
Der ein oder andere Pilger im Restaurant entdeckte schon mal ein ihm bekanntes Gesicht. Es kam nicht selten vor, dass ein Pilger wie von der Tarantel gestochen aufsprang, fast den Tisch niederriss und einem anderen Pilger um den Hals fiel. Oft in Tränen aufgelöst oder schreiend. Wir bestellten das Essen. Hansi bekam eine SMS von Bernd: »Wir sind auf dem Weg von Santiago nach Finisterre.« Mein Herz schlug schneller: »Wann kommen sie? Wo befinden sie sich?«
»Nun mal langsam, Mano«, meinte Hansi.
»Ich weiß nicht genau, wo sie sich befinden, ob sie zu Fuß oder mit dem Bus nach Finisterre kommen.«
Nach dem Essen hielt ich Siesta, machte es wie die Einheimischen. Während ich schlief, trafen Rainer und Brigitte im Ancora ein. Wir trafen uns am späten Nachmittag, freuten uns riesig über unser Wiedersehen und beschlossen das Abendessen gemeinsam im Hotel Ancora einzunehmen. Voller Verwunderung und Freude setzte ich mich an jenem Abend ans Kopfende einer großen Tafel, an der dreizehn Personen Platz genommen hatten. Ich schaute in liebgewonnene Gesichter und fand selbst Martins Anwesenheit nicht als störend. Hansi, der neben mir saß, sprach mich an: »Manolo, das ist heute Abend deine Tafel.« Ich schaute ihn verwundert an, antwortete nicht und realisierte einige Augenblicke später, was er damit meinte. Ja, dachte ich, die Menschen an diesem Tisch hatte ich alle auf dem Camino
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