Ein orientalisches Maerchen
sie jetzt immer noch auf der Hut. Auch wenn sie sich selbst zu beruhigen versuchte, dass doch nichts dabei war, dass es da auch noch seine Schwester gab, mit der sie sogar telefoniert hatte, und dass ihr in ihrer momentanen Situation gar keine andere Wahl blieb. Einfach trotzdem.
„Warum haben Sie Ihre Schwester gebeten, mich anzurufen? Ich meine, sie …“
„Sie kennt Sie nicht einmal. Ja, stimmt. Na und?“ Da war es wieder, dieses amüsierte Funkeln, als er Kit tief in die Augen sah und den Motor startete. „Na ja, ich glaube, ich muss Ihnen da noch so manches erklären, was das Leben in Marokko betrifft, ma chère.“ In diesem Moment gab er Gas und verließ in einem halsbrecherischen Tempo den Parkplatz.
„Ich verstehe nicht, wovon Sie reden.“
„Na, fangen wir am besten gleich mal mit der Beziehung zwischen Männern und Frauen an. Man erzählt sich da so einige Schauermärchen von Frauen, die im Gewirr der Medina verschwinden.“ Dumont ging kurz vom Gas, als ein paar Esel über die Straße liefen.
„Aber …“ Kit schluckte und biss sich auf der Unterlippe.
„Aber daran erinnern Sie sich auch nicht.“ Gerard beschleunigte wieder. „Das habe ich mir fast schon gedacht. Nun, ist vielleicht auch besser so. Sind ohnehin, wie gesagt, nur Schauermärchen. Trotzdem : Wenn man als Frau in diesem Land unterwegs ist, sollte man gewisse Spielregeln kennen. Das war mit ein Grund, warum ich wollte, dass Sie so schnell wie möglich mit meiner Schwester sprechen. Die übrigens Ihr Alter haben dürfte.“ Er grinste Kit breit an und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. „ Alors, Marokkaner agieren zum Beispiel sehr viel direkter als Westeuropäer. Eine Frau, die alleine ist, wird ganz offen gefragt, ob sie mit ihnen die Nacht verbringen will. Und wenn sie das verneint, sollte sie sich auf eine – in der Regel charmante – Diskussion über das Für und Wider gefasst machen.“
Wie bitte? Kit brachte nur ein schwaches Nicken zustande.
„Sie können Colette und mir ruhig vertrauen“, sagte Dumont und taxierte Kit mit einem ihr unergründlichen Blick. „ Ma belle, Sie werden es nicht bereuen. Denken Sie an den kleinen Vogel. Mit geheiltem Flügel hätte er wieder fliegen können.“ Gerard schaltete in einen anderen Gang und streifte dabei für den Bruchteil einer Sekunde ihr Knie. Sofort jagte Kit wieder dieser Schauer über den Rücken, und sie rückte die Beine beiseite.
„Und falls Ihnen die Geschwindigkeit nicht behagen sollte, mit der wir hier dahinrasen – keine Sorge, alles im grünen Bereich!“ Er grinste beinahe jungenhaft. „Aber ich muss etwas mehr Gas geben, weil das Flugzeug schon startklar ist.“
„Das Flugzeug?“
„Genauer gesagt, meine kleine Cessna.“
Kit rang sich ein Lächeln ab, um ihre aufsteigende Panik zu überspielen. Dumont hatte richtig vermutet, als er eben erwähnte, die Geschwindigkeit würde ihr womöglich nicht behagen. Angst empfand sie jedoch nicht nur wegen des Fahrtempos, das sie die Kinder, die dem auffälligen Sportwagen begeistert am Straßenrand zuwinkten, kaum wahrnehmen ließ. Auch das Gespräch mit dem Arzt, das ihr wieder in den Sinn gekommen war, erfüllte sie mit Sorge. Welche Fragen hatte er ihr denn schon beantworten können, abgesehen von denen, die ihren Gedächtnisverlust betrafen. Eine Zukunft, die ohne eine Vergangenheit war, konnte es doch gar nicht geben. Vielleicht würde sie sich ja nie mehr erinnern. Und woher wollte sie wissen, dass der Arzt ihr nicht etwas verschwiegen hatte, als sie ihn über Dumont befragte?
Immerhin hatte sie so herausgefunden, dass Gerard Dumont Reeder war. Seine Flotte exportierte exotische Früchte, Gewürze, Meeresfrüchte und Fische aus Nordafrika nach Frankreich und zählte mit Niederlassungen in den Häfen von Casablanca, Essaouira und Marrakesch zu den größten im maritimen Transport – nach dem überraschend frühen Tod Dumont Seniors und seiner Frau sogar bereits in der zweiten Generation. Mittlerweile gehörte die Familie Dumont nicht nur zu den vermögendsten, sondern auch zu den angesehensten des Landes. Dumonts Schwester Colette war zudem mit einem einflussreichen Marokkaner verlobt.
Nein, was diese Angaben betraf, war der Arzt wirklich sehr mitteilsam gewesen. Nur ihre Frage zum Lebenswandel Dumonts hatte er ausgesprochen ausweichend beantwortet. Fast so, als wolle er darüber nicht reden. Sie hatte nur erfahren, dass Dumont offenbar einer der begehrtesten Junggesellen war und
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