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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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wird es gehen, Madame«, sagte Judith mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme. »Ach ja? Akute Zahnschmerzen …«
    Sie warf ihrer Chefin einen flehenden Blick zu.
    »Dezember«, wiederholte Madame Béranger mit wildem Blick.
    Und ihr Blick wurde noch wilder, als sie sah, wie eine schwarze Dame und ihre kleine Tochter sich ihrem Tresen näherten. Sie kannte sie. Es waren illegale Einwanderer.
    »Guten Tag, Madame, guten Tag, wie geht selbst, wie geht Kinde’?«, sagte die Mama von Donatienne. »Ich komme wegen meine Tochte’.«
    »Sie waren doch schon hier. Und ich habe Ihnen schon gesagt, dass hier Menschen behandelt werden, bei denen alle Papiere in Ordnung sind.«
    Sie wandte sich zu Judith, die sich immer noch endlos am Telefon entschuldigte: »Legen Sie jetzt auf, bitte? Es könnten wichtige Anrufe kommen. Gut, und Sie …«
    Sie zeigte der verwitweten Madame Baoulé den Ausgang und schreckte kurz zusammen, als sie dort eine junge blonde Frau sah, die die Szene beobachtete.
    »Haben Sie einen Termin?«
    »Nein«, antwortete Nathalie. »Ich begleite Madame Baoulé bei ihren Amtsgängen. Ich gehöre zu einem Verein, der Migranten unterstützt.«
    »Machen Sie in Ihrer Freizeit, was Sie wollen«, entgegnete Madame Béranger. »Aber das hier ist eine Ambulanz, und Sie werden mir doch wohl nicht meinen Beruf erklären.«
    »Ich glaube doch«, antwortete Nathalie. »Hier ist die Eingangsbestätigung der Präfektur, die belegt, dass Madame Baoulé einen Asylantrag gestellt hat.«
    Madame Béranger warf kaum einen müden Blick auf das zu oft zusammen- und wieder auseinandergefaltete Stück Papier.
    »Und was soll ich Ihrer Meinung nach mit dem Wisch machen?«
    »Dieses Dokument«, verbesserte Nathalie, »verleiht das Recht auf vollständige medizinische Versorgung. Und dieses kleine Mädchen, das seit mehr als einem Jahr in Frankreich lebt, wie die vom Direktor der Louis-Guilloux-Grundschule unterzeichnete Schulbescheinigung hier bestätigt, hat das Recht, in dieser Ambulanz behandelt zu werden. Ich bitte Sie also um einen dringenden Termin für sie.«
    Sie hatte sehr ruhig geredet, aber insistierte auf dem »dringenden Termin«, während sie sich über den Tresen zu Madame Béranger beugte.
    »Wir haben nichts vor Dezember«, sagte die gute Frau triumphierend.
    »O doch, suchen Sie nur gründlich.«
    »Sie werden mir doch wohl nicht meinen …«
    Madame Béranger bemerkte, dass sie das bereits gesagt hatte, und hielt inne. Die Wut brachte langsam ihre Wangen zum Glühen.
    »Wissen Sie, ich bin gebeten worden, illegale Einwanderer bei der Präfektur anzuzeigen«, zischte sie wütend. »Also, wenn Sie Ärger suchen …«
    Ohne etwas zu erwidern, setzte Nathalie zwei Finger an den Mund und gab einen schrecklichen Pfiff von sich. Daraufhin geschah etwas, was Madame Béranger in zehn Jahren Empfangsdienst in der Ambulanz Léon-Blum noch nicht erlebt hatte.
     
    Ein junger Mann betrat den Raum, mit einer Art kleinem Akkordeon in den Händen. Es war Eloi mit seinem Bandoneon, begleitet von den jungen Leuten der Anti-Werbe-Gang, die zum heutigen Anlass in Ausgesprochen-Wandelbare-Gruppierung umgetauft worden war. Ein Junge spielte Trompete, ein anderer Saxophon, ein dritter hatte eine Oboe, ein Mädchen spielte Becken, ein anderes schlug die große Trommel. Und fünf Chorsänger, die rhythmisch auf Klanghölzer schlugen, stimmten die wohlbekannte revolutionäre Hymne an:
    »Die kleine Maus ist tot, ach, hey, hey, höö!
    Es hängt heraus all ihr Gedärm,
    Das ist nicht schön, das ist nicht schön!«
    Nathalie brüllte: »Wir wollen einen Termin!«
    Bestürzt flüchtete die kleine Judith in einen Flur, während Madame Béranger nach etwas zur Verteidigung suchte. Als Eloi und sein Orchester dem Publikum gerade verkündeten, der große Hundi-Hund sei ebenfalls tot, hey, hey, höö!, und sein ganzer Bauch hinge raus, das sei nicht schön, das sei nicht schön, kam Judith zurück, gefolgt von einem Mann im weißen Kittel.
    »Ach, Doktor Moulière, Doktor Moulière!«, rief Madame Béranger, die endlich ihre Rettung sah. »Die sind völlig verrückt! Rufen Sie die Polizei!«
    »Stopp!«, brüllte Nathalie.
    Die Blaskapelle verstummte, und Nathalie ergriff das Wort: »Herr Doktor, diese Person hier«, sie deutete auf Madame Béranger, »verstößt gegen das Gesetz, indem sie einem kleinen Mädchen, das seit mehreren Tagen unter starken Zahnschmerzen leidet, die ärztliche Behandlung verweigert.«
    Nathalie vermied es

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