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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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an den Tag, an dem Kicko-Kack so viel gelaufen war, dass er ganz aufgescheuerte Pfoten hatte«, sagte Cécile. »Und wisst ihr, warum er so viel gelaufen ist?«
    »Nein!«, riefen Toussaint und Démor im Chor.
    Die letzten Kilometer vergingen wie durch Zauberei. Alle Baoulés hatten sich um Cécile geschart und hörten ihr zu. Als sie am Fuß der Böschung ankamen, stießen sie erleichterte Hurrarufe aus. Ohne zu verstehen, was da geschah, sah Cécile ihnen zu, wie sie den Hügel erklommen. Leon blieb zurück. Es war der Moment, jetzt oder nie.
    »Madame«, sagte er ergriffen. »Ich will Sie heiraten.«
    Sie zuckte verwirrt zusammen. Es war ihr erster Heiratsantrag.
    »Vielleicht bist du ein bisschen klein.«
    »Aber wenn ich ein bisschen groß bin?«
    Oben tauchte Alphonse auf der Böschung auf.
    »Kommst du, Leon?«
    Cécile flüsterte dem kleinen Jungen ins Ohr: »Einverstanden …«
    Und flinker als eine kleine Ziege kletterte sie die Böschung hinauf.
    »Jetzt ist es gut«, sagten Honorine und Victorine. »Wir können spielen.«
    »Und das ist auch nicht gefährlich?«, fragte Cécile besorgt.
    Die Kinder lachten laut und spielten in der Mitte der Schienen Eisenbahn.
    »Da hinten ist unser Haus!«, rief Leon.
    »Der Bahnhof«, murmelte Cécile.
    Auf dem Bahnsteig stand Madame Baoulé und erwartete ihre Kinder. Als sie Cécile entdeckte, stemmte sie die Hände in die Hüften, sie stand massig und prächtig da, als sei sie bereit, aus ihrem Körper ein Bollwerk zu machen. Démor und Toussaint rannten zu ihr und riefen: »Das ist die Lehrerin! Das ist die Lehrerin!«
    Madame Baoulé hatte schon viel von Cécile und Kicko-Kack Hase gehört. Ihr Gesicht verwandelte sich in ein breites Lächeln.
    »Abe’ de’ Weg ist so weit, weit, hie’he’! Kommen Sie ’ein, kommen Sie ’ein!«
     
    Im Inneren, im großen Wartesaal, der in Waschküche und Küche verwandelt worden war und wo an Leinen aufgehängte Wäsche trocknete und in zwei großen Kesseln Fleisch in Sauce köchelte, unterhielt sich Nathalie mit der verwitweten Madame Baoulé. Sie warf den Kindern einen irritierten Blick zu und runzelte die Stirn, als sie Cécile entdeckte.
    »Wer ist das?«, bellte sie als guter Wachhund der Baoulés.
    Cécile stellte sich vor und sprach das Problem von Donatienne an. Nathalie wandte sich unzufrieden an die verwitwete Madame Baoulé.
    »Aber davon haben Sie mir gar nichts erzählt!«
    »Du hast so g’oße, g’oße So’gen mit uns«, jammerte die Mama von Donatienne.
    Sie erzählte, dass die Dame der Ambulanz am Place Léon-Blum ihre Gesundheitskarte habe sehen wollen, dann eine Aufenthaltserlaubnis, dann eine Quittung über bezahlte Miete und ihr am Ende gesagt habe, sie solle ihre Tochter in der Elfenbeinküste behandeln lassen.
    »Minderjährige haben in Frankreich Anrecht auf medizinische Versorgung, selbst wenn sie sich unrechtmäßig im Land aufhalten«, rief Nathalie und klopfte dazu mit dem Kuli auf den Holztisch. »Es genügt nachzuweisen, dass sie sich dauerhaft in Frankreich aufhalten.«
    Sie wandte sich an Cécile: »Können Sie ihr eine Bescheinigung über regelmäßigen Schulbesuch ausstellen? Sehr gut. Das wird gehen.«
    Sie wandte sich wieder an die verwitwete Madame Baoulé: »Ich begleite Donatienne zur Ambulanz. Es ist nicht das erste Mal, dass mir jemand von einer Dame am Empfang erzählt, die sich als Chef aufspielt.«
    Sie verabredeten sich für den kommenden Montag, und Cécile überließ Donatienne bis dahin ihre Aspirinpackung.
     
    Madame Béranger arbeitete seit mehr als zehn Jahren am Empfang der Ambulanz am Place Léon-Blum, und wie sie selbst sagte, würde man ihr doch wohl nicht ihren Beruf erklären. Man hatte ihr eine unsichere Praktikantin vorgesetzt oder, genauer gesagt, ihr ausgeliefert.
    »Judith, hören Sie nicht das Telefon?«, schimpfte Madame Béranger.
    »Doch, doch. Soll ich abheben?«
    »Nein, starren Sie drauf, bis es Ihnen in die Arme hüpft«, rief Madame Béranger, die glaubte, sie habe Humor.
    Jedes Mal, wenn Judith von sich aus das Telefon abgehoben hatte, war sie getadelt worden, weil sie sich in Dinge mischte, die sie nichts angingen.
    »Ambulanz Léon-Blum, was kann ich für Sie tun?«, sagte Judith mit ihrer allerliebenswürdigsten Stimme. »Ja? Einen Termin für …? Einen Zahnarzttermin …«
    Sie sah Madame Béranger fragend an.
    »Nicht vor Dezember«, antwortete die Empfangsdame, ohne auch nur den Kalender für die Arzttermine durchzublättern.
    »Im Dezember

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