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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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Lieblingskostüm auf dem Bett lag.
    Gil trat ein, machte noch einen Schritt und blieb dann unentschlossen stehen.
    »Störe ich?«
    »Nein«, sagte Eloi und schnappte sich seinen roten Bademantel. »Aber mach trotzdem die Tür zu.«
    Er hielt es für angebracht, eine kleine Erklärung abzugeben: »Ich vermeide es, meine Kleidung abzunutzen. Alles okay?«
    »Mja.«
    Gil sah sich im Zimmer um. Jede Wand war in einer anderen Farbe gestrichen, himmelblau, lachsrosa, nilgrün und strohgelb. In einer Ecke stand ein altes Kasperletheater, in der Mitte thronten eine Marimba und ein Bandoneon, und aus einer halbgeöffneten großen Truhe aus Weidengeflecht quollen Bücher.
    »Setz dich«, sagte Eloi und deutete auf einen Baumstumpf, der die einzige Sitzgelegenheit im Zimmer war.
    »Ich bring dir dein Buch zurück«, sagte Gil und legte
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aufs Bett.
    »Und, was denkst du darüber?«
    »Na ja.«
    »Kaufst du dir weiter Nike-Sneaker?«
    »Weiß nicht.«
    Gil winkelte seine Storchenbeine an und setzte sich auf den Baumstumpf. Er wusste nicht, was er von der Globalisierung, gentechnisch veränderten Organismen und dem Aktienindex halten sollte.
    »Weißt du, Eloi«, sagte er, streckte die Beine vor sich aus und bewegte die Latschen ganz am Ende, »ich glaube, ich denke nicht.«
    Er erwartete, dass Eloi sich aufregte und versuchen würde, ihn ideologisch zu beeinflussen. Aber der junge Mann lachte nur.
    »Was gibt dir das, arm zu sein?«, wollte Gil wissen.
    »Ich bin nicht wirklich arm. Die Armen suchen sich ihr Leben nicht aus. Ich schon. Im Grunde bin ich …«
    Er suchte das Wort an der Decke: »Ich bin flüchtig. Wie ein Vogel an der äußersten Spitze eines Zweiges. Der Zweig knickt ab. Fällt der Vogel? Nein, er fliegt davon!«
    Er sprang mit einem Satz auf und ging zum Fenster.
    »Ich zeig dir was Komisches«, sagte er und winkte Gil zu sich. »Siehst du den Typen da unten?«
    »Mit der Jeansjacke?«
    »Ja. Er überwacht mich.«
    Er lachte. Gil musterte ihn ungläubig. Er befürchtete ein bisschen, von Eloi reingelegt zu werden.
    »Ich bin ein gefährlicher Mann«, sagte er. »Wusstest du das nicht? Warte, ich zieh mich an, und dann führen wir den Hund Gassi.«
    Gil sah wieder aus dem Fenster. Der Typ hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und entfernte sich. Eloi hatte also Blödsinn erzählt. Aber am Ende der Straße blieb der Typ stehen, lehnte sich an eine Mauer und rauchte.
    »Fertig für den Spaziergang?«, fragte Eloi. »Gestern habe ich ihn zehn Kilometer durch die Nacht laufen lassen. Herrliches Wetter, Sternenhimmel, bestimmt war er glücklich.«
     
    Als Gil und Eloi auf der Straße waren, liefen sie zügig los. Nach ein paar Metern drehte Gil sich um. Der Mann folgte ihnen.
    »Aber wer ist das?«
    »Bestimmt ein Guter«, sagte Eloi, »denn ich bin doch ein Böser. Hast du noch nie einen Film gesehen?«
    Plötzlich bückte er sich, zog ein Stück Kreide aus einer der zahlreichen Taschen seiner Armeehose, zeichnete einen kleinen Kreis auf den Bürgersteig und schrieb die Ziffer 1 hinein.
    »Was tust du?«
    »Ich trainiere mittels kleiner Rätsel seinen Intellekt«, antwortete Eloi und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Verfolger.
    Hundert Meter weiter zeichnete er einen zweiten Kreis, in den er die Ziffer 2 schrieb.
    »Was bedeutet das?«
    »Absolut nichts. Jetzt klingeln wir bei Doktor …«
    Er ging zu einer Haustür und las auf dem Schild: »Doktor Mérou. Hautkrankheiten. Krampfadern. Laserbehandlung.«
    Gil wich zurück und sah ihm leicht erschreckt zu. Eine nicht mehr ganz junge Dame öffnete: »Ja?«
    »Guten Tag, Madame«, sagte Eloi sehr höflich. »Das hier habe ich auf den Stufen vor Ihrer Tür gefunden.«
    Er zeigte ein Zwanzig-Cent-Stück in seiner Handfläche.
    »Und ich dachte mir, dass Doktor-Mérou-Hautkrankheiten-Krampfadern-Laserbehandlung es vielleicht verloren hat.«
    Die Dame beugte sich verblüfft über die Münze.
    »Ich … ich glaube nicht.«
    »Dann vielleicht Madame Mérou?«, fuhr Eloi fort. »Darf ich mir erlauben, sie Ihnen zu überlassen? Sollte sie weder Herrn Doktor Mérou noch Madame gehören – könnte ich mich dann darauf verlassen, dass Sie sie wohl zur Polizeiwache bringen?«
    Bevor die gute Frau noch die Zeit hatte zu reagieren, sah sie sich schon mit der Münze in der Hand.
    »Ich verlasse mich auf Sie«, wiederholte Eloi und ging mit einem reizenden Lächeln.
    Er machte ein paar Schritte und flüsterte Gil zu: »Doktor Mérou bekommt jetzt einen

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