Ein Ort wie dieser
sie dem Jugendamt anvertraut.«
Das war der einzige düstere Punkt. Vielleicht würden die zwölf Kinder auch noch im nächsten Schuljahr auf die Louis-Guilloux-Grundschule gehen.
»Ungenießbar, dieser Kaffee …«
Er stellte seine Tasse zurück und erklärte empört: »Es wäre doch der Gipfel, wenn die Eltern uns ihren ganzen Stall Kinder zurückließen! Wir französischen Steuerzahler haben ja nichts anderes zu tun, als kleine Ivorer aufzuziehen!«
Die Dame von der Präfektur wagte nicht zu antworten. Tatsächlich kam es vor, dass manche Eltern ihre Kinder lieber dem Jugendamt überließen als sie in das Land mit zurückzunehmen, in dem die Gefahr drohte, dass sie umgebracht würden. Ja, so weit gingen manche Eltern.
Die verwitwete Madame Baoulé wusste nicht, was sich um sie herum zusammenbraute, aber seit dem 15 . Januar verließ sie nur noch einmal am Tag das Haus, um mit Eden in den kleinen Park zu gehen. Sie lebte in der Angst, einem Polizisten zu begegnen, der sie nach ihren Papieren fragen würde.
Am Sonntagnachmittag nahm Cécile Leon bei der Hand und holte erst Clotilde bei Melanie Muller und dann Donatienne bei ihrem Zahnarzt ab. Alle vier gingen in den Park, wo die Mädchen mit ihrer kleinen Schwester spielten und Leon diejenige wiedersah, die er Mimami nannte. Die verwitwete Madame Baoulé betrachtete mit starrem Lächeln ihre Kinder und hörte zu, war aber fast unfähig, sich für sie zu interessieren. Sie war depressiv, aber wagte es nicht mehr, zur Ambulanz zu gehen und sich behandeln zu lassen. Sie war wirklich zur Ausgestoßenen geworden und lebte mitten in der Stadt wie in einem Schattenreich. Wenn alle vom Herumstapfen vor dem Musikpavillon ordentlich durchgefroren waren, trennten sie sich für die nächste Woche.
Die kinderlosen Guérauds hatten Eden zur kleinen Königin ihres Hauses gemacht. Sie hatten ein vor lauter rosa Tüll knisterndes Gitterbettchen für sie gekauft, einen ganzen Schrank mit unnötig kostspieligen Kleidungsstücken gefüllt und den Teppich unter einem Berg von Stofftieren und Lernspielzeug verschwinden lassen. Eden nahm an Gewicht ebenso zu wie an Selbstbewusstsein. Seit ein paar Tagen rief sie Madame Guéraud mit demselben Namen wie ihre Mutter: Mimami.
»Mein Schatz, du bist ja ganz kalt«, sagte Madame Guéraud beunruhigt und nahm das Baby aus dem Buggy.
Eden, die alles verstand, was man ihr sagte, legte ihre eisigen Händchen auf die Wangen ihrer Adoptiv-Mama. Madame Guéraud drehte sich zu Madame Baoulé um: »Man muss ihr Fäustlinge anziehen. Ich habe extra welche für sie gekauft.«
Madame Baoulé stammelte etwas, was wie eine Entschuldigung klang. Sie war es nicht mehr gewohnt, Französisch zu sprechen. Diese Welt wies sie zurück, und sie wies diese Welt zurück. Madame Guéraud nahm es ihr übel, dass sie sich nicht dankbarer zeigte.
Am Montagmorgen verabschiedete sich Monsieur Guéraud, der Englischlehrer an der Benjamin-Franklin-Gesamtschule war, von seiner Frau und Baby Eden mit einem Kuss.
»Noch nicht auf?«, fragte er leise und deutete auf eine geschlossene Tür.
»Oh, nicht vor zehn«, antwortete Madame Guéraud barsch.
»Das ist eine Depression, weiß du.«
»Ja, vielleicht.«
Ohne es sich einzugestehen, wünschte sie sich manchmal, Madame Baoulé würde ganz verschwinden.
»Mimami?«, sagte die Kleine und spielte mit ihren marmeladeverschmierten Fingern Püppchen.
»Ja, mein Engel, komm, wir gehen uns saubermachen.«
Als Madame Guéraud im Bad war, wollte sie dem Kind die Haare bürsten, aber die Kleine fing an, leise zu schreien. Madame Guéraud wusste nicht, wie sie es machen sollte, und so würde sie warten müssen, bis Madame Baoulé wach wäre, damit Edens Haare geflochten würden. Ich werde sie bitten, mir das beizubringen, dachte Madame Guéraud. Falls eines Tages … Sie beendete ihren Gedanken nicht. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Eden, die an die unvermutete Rückkehr von Monsieur Guéraud dachte, rannte hin.
Was hat er wohl vergessen?, fragte sich seine Frau und öffnete.
Als sie zwei Männer vor der Tür sah, schreckte sie zusammen. Einer von beiden legte die Hand an sein Käppi.
»Polizei. Wir haben einen Haftbefehl gegen Madame Francette Baoulé.«
Denn zu Ehren Frankreichs hatte Madame Baoulé von ihren Eltern den Vornamen Francette erhalten.
»Ich kenne niemanden mit diesem Namen«, murmelte Madame Guéraud.
»Sie wohnt bei Ihnen«, antwortete der Polizist. »Ich bitte Sie jetzt, uns
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