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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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hätte sie in den Schlaf gewiegt. Jetzt aber war sie hellwach und sah alle mit ernstem Blick an. Die Polizistin am Empfang fühlte sich dadurch unangenehm berührt.
    »Wir sperren die doch nicht in eine Zelle?«, fragte sie ihren Kollegen und zeigte auf das Kind.
    »Versuch doch, ihr das Kind wegzunehmen, und schau, was passiert«, spottete er.
    Madame Baoulé und Eden wurden also ins obere Stockwerk geführt, wo sich die Zellen für den Polizeigewahrsam befanden. Hinter dem Gitter einer Zelle sah man ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl.
    »Hat sie Sachen dabei?«, fragte die Frau.
    »Eine Tasche«, antwortete der Polizist. »Ich untersuche sie und bring sie dir.«
    Er drehte sich zu Madame Baoulé um und verkündete ihr die gute Nachricht: »Wir bringen Ihnen einen Fernseher.«
    Dann ging er und hatte es eilig, Mutter und Kind zu vergessen. Er mochte es nicht, dass seine Arbeit so aussah. Übrigens mochte das niemand. Und das war der Grund, wieso Madame Baoulé vollständig vergessen wurde. Um halb eins hatte ihr noch niemand ihre Sachen gebracht und niemand etwas zu Essen gegeben. Aber eine gute Seele hatte ihr einen kleinen Fernseher angeschlossen, der in einer Ecke der Zelle hing und seine Bilder ausspuckte. Eden hatte Hunger und begann leise zu schluchzen, und ihre Mutter schaukelte sie wie betäubt in den Armen, während sie dazu summte
Bébé ô bébé, nouan zoe khoh, bébé ô bébé, nouan zoe gbiyako.
In der Zelle nebenan saß ein Säufer, der nach einer Prügelei auf der Landstraße aufgelesen worden war und der Madame Baoulé begleitete, indem er immer wieder »Ich habe Durst!« rief. Nach dreizehn Uhr kam ein Polizist und legte verstohlen ein Sandwich und eine Flasche Wasser auf den Tisch.
    »Baby, Baby«, jammerte Madame Baoulé und hielt ihm das Kind entgegen.
    Eden war vor Erschöpfung schließlich eingeschlafen, aber von Zeit zu Zeit wurde sie von einem Schluchzen durchgeschüttelt, das größer war als sie selbst.
    »Ist sie krank?«, fragte der Mann verschreckt.
    »Nicht gegessen.«
    »Ach, verdammt! Ja, was haben die mir da nur …«
    Rasch lief er hinaus und machte sich auf die Suche nach einer Kollegin. Eine Frau schien ihm besser geeignet, das Problem zu lösen. Zwanzig Minuten später kam er mit einer Plastiktüte zurück, in der sich ein Liter Milch, ein Fläschchen, ein kleines Gläschen Apfel-Quitte-Brei und ein Löffel befanden.
    »Danke, Monsieur, danke«, sagte Madame Baoulé in einer Anwandlung aufrichtiger Dankbarkeit.
    Es war ihm unangenehm.
    »Weißt du, wenn das nur an mir liegen würde …«, stammelte er.
    Er zuckte mit der Schulter. Der Säufer in der Nachbarzelle trat immer wieder gegen die Gitterstäbe und brüllte: »Zu trinken, ich hab Durst!«
    Der Polizist reagierte sich an ihm ab: »Hältst du endlich das Maul? Hier ist ein Kind!«
    Dann stellte er den Fernseher lauter, um die Schreie des Säufers zu übertönen. Madame Baoulé verbrachte den Nachmittag niedergeschlagen in ihrer Zelle, während der Bildschirm
Schatten der Leidenschaft
und
Alarm für Cobra 11
über ihr ausspuckte. Eden spielte mit dem Fläschchen, schaffte es, den Sauger abzuziehen, und verschüttete den Rest der Milch über ihr Kleid. Dann erkundete sie die Tiefen des Obstgläschens mit dem Löffel und beschmierte sich Wangen, Hände und Arme.
    »Mimami?«, summte sie und spielte Püppchen mit ihren klebrigen Patschhändchen.
    Aber ihre Mutter war weit von ihr entfernt, sehr weit, jenseits unserer Grenzen.
     
    Gegen achtzehn Uhr entstand Unruhe im Gang, und plötzlich erschien Nathalie mit vor Wut geweiteten Augen hinter den Gitterstäben. Sie schwenkte die Tasche von Madame Baoulé.
    »Ihre Sachen!«
    Sie drehte sich zu dem Polizisten um: »Machen Sie jetzt auf oder was?«
    Der Mann war ebenfalls auf hundertachtzig: »Ich schmeiß Sie gleich raus, wenn Sie weiter in diesem Ton mit mir reden!«
    »Und ich schicke Ihnen die Journalisten!«, brüllte Nathalie. »Dann machen die ein Foto eines Babys hinter Gittern.«
    Der Polizist warf einen besorgten Blick auf die junge Frau, die er innerlich bereits »die Irre« nannte. Er hätte sie durchsuchen sollen, sie hatte sicher ein Handy dabei.
    »Das Baby ist da, weil die Frau es behalten wollte«, rechtfertigte er sich. »Wir haben das aus Menschlichkeit gemacht.«
    »Das haben auch die Polizisten gesagt, die die jüdischen Kinder mit ihren Eltern verhaftet haben«, schleuderte Nathalie ihm entgegen. »Die sind an Ihrer Menschlichkeit umgekommen!«
    Sie

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