Ein perfektes Leben
wenn er sie nie mehr wieder gesehen, nie wieder mit ihr gesprochen hätte, wenn er sie aus seiner Erinnerung verbannt und sich solche Enttäuschungen wie die am gestrigen Abend erspart hätte. Nicht mal das Saufgelage mit dem Dünnen hatte seine Begierde erstickt, und er hatte den nicht enden wollenden Tag damit beendet, in Gedanken an diese unverzeihliche Frau zu onanieren. Nur so hatte er endlich einschlafen können.
Von hier stammt also Rafael Morín, dachte er, während sie zu der Tür ganz hinten gingen. Glanz und Gloria und Farbe hatten sich aus diesem alten Kasten in der Calzada 10 de Octubre schon vor langer Zeit verabschiedet. Jetzt war es ein baufälliges, stickiges Mietshaus, in dem jedes Zimmer in eine eigenständige Wohnung umgewandelt worden war, mit Gemeinschaftsbad und Gemeinschaftswaschküche, mit Wänden, von denen der Putz blätterte und auf denen jede Generation ihre Kritzeleien hinterlassen hatte, mit einem unauslöschlichen Gasgeruch und einer langen Wäscheleine, die an diesem Sonntagmorgen voll gehängt war. »Glanz und Elend«, bemerkte Manolo, und er traf damit den Nagel auf den Kopf. Dieses dunkle, überbelegte Mietshaus schien Welten entfernt von dem Anwesen in der Calle Santa Catalina. Man konnte sagen, es trennten sie Ozeane und Berge, Wüsten und Jahrhunderte. Doch auf dieser Seite des Lebens wurde Rafael Morín geboren, in der Wohnung Nr. 7, dort, ganz hinten, neben dem Gemeinschaftsbad und der Waschküche, in der gerade zwei Frauen standen, die sich weder vor der Kälte noch vor sonst irgendwelchen Widrigkeiten des Lebens fürchteten.
Sie grüßten die Frauen und klopften an die Tür mit der Nr. 7. Die Frauen musterten sie. Sie kannten das Leben und sahen ihnen gleich die Polizisten an. Bestimmt wussten sie über Rafaels Verschwinden Bescheid. Erst als die Tür geöffnet wurde, wandten sie sich wieder ihrer schmutzigen Wäsche zu.
»Guten Tag, María Antonia«, sagte der Teniente.
»Guten Tag«, erwiderte die alte Frau. In ihrem Blick lag der Argwohn eines gehetzten Tieres. Mario Conde wusste, dass sie kaum über sechzig war, doch das Leben hatte ihr so manch harten Schlag versetzt, sodass sie wie achtzig aussah. Durchlittene Jahre und wenig Lust, noch übermäßig viele hinzuzufügen.
»Ich bin Teniente Conde«, sagte er und zeigte ihr seinen Ausweis, »und das ist Sargento Palacios. Wir ermitteln im Fall Ihres Sohnes.«
»Kommen Sie bitte rein, und achten Sie nicht auf das Durcheinander, ich bin im Moment so … «
Die Einzimmerwohnung war kleiner als die Bibliothek von Tamaras Vater, und dennoch standen in ihr ein Ehebett, ein Schrank, eine Kommode, ein Schaukelstuhl, ein leichter Sessel und ein Farbfernseher auf einem Eisentischchen. Neben dem Fernseher befand sich ein Vorhang, hinter dem El Conde eine kleine Küche und vielleicht ein Badezimmer vermutete. Er versuchte das angekündigte Durcheinander auszumachen, konnte aber lediglich eine Bluse auf dem Bett und eine Stofftasche und das Lebensmittelheftchen auf der Kommode entdecken. In einer Ecke des Zimmers sah er nun eine Statue der Jungfrau von Cobre auf einem Holzgestell und vor ihr eine blaue Kerze in den letzten Zügen.
Mario Conde hatte sich in den Sessel gesetzt, Manolo in den Schaukelstuhl und María Antonia mit halbem Hintern auf die Bettkante.
»Gibt es schlechte Nachrichten?«, fragte sie ängstlich.
Mario betrachtete die alte Frau. Er fühlte sich unbehaglich und betroffen. Das glücklose Leben dieser Frau drehte sich bestimmt ausschließlich um die Erfolge des Sohnes, und Rafaels Verschwinden raubte ihrem Dasein den einzigen Sinn. María Antonia sah sehr zerbrechlich und sehr traurig aus. El Conde musste überrascht feststellen, dass er von ihrer Traurigkeit angesteckt wurde. Er wünschte sich weit weg, jetzt gleich, auf der Stelle.
»Nein, María Antonia, es gibt keine Neuigkeiten«, sagte er schließlich. Er unterdrückte seine Lust zu rauchen, denn er sah nirgendwo einen Aschenbecher. Stattdessen fing er an, mit seinem Kugelschreiber zu klicken.
»Was ist nur passiert?«, fragte die Alte mehr zu sich selbst. »Wie ist das möglich, wie ist das möglich? Was kann meinem Sohn nur zugestoßen sein?«
»Señora«, sagte Manolo und beugte sich zu ihr vor, »wir tun alles, was wir können. Deswegen sind wir hier. Wir brauchen Ihre Hilfe, verstehen Sie? Wann haben Sie Ihren Sohn zum letzten Mal gesehen?«
Die Frau hörte auf, den Kopf zu schütteln, und sah den Sargento an. Möglicherweise kam er ihr
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