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Ein Pyrenäenbuch

Ein Pyrenäenbuch

Titel: Ein Pyrenäenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Tucholsky
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Vergleichsmaßstäbe fehlen, überwältigt er nicht. Brav und mit
vorgeschriebner Begeisterung wandeln die Lourdes-Sachsen die klassische
Strecke.
    Ein Gutes aber hat Gavarnie
doch gehabt. Ein französischer Zeichner schöpfte sich hier sein Pseudonym:
Gavami, Daumiers Zeitgenosse; Hunderte amüsanter Mode- und Theaterzeichnungen
liegen uns vor. Er schrieb sich ohne e — bei mir hatten Gavarnie und Gavami
bisher immer in zwei verschiedenen Schubladen gelegen, so wie ja kein
vernünftiger Mensch bei Goethes ‹Faust› an eine geballte Hand denkt.
    Im Dorf Gavarnie selbst fand
sich ein Schild vor: «Zur Kirche, XVI. Jahrhundert». Ah — wie gebildet! zur
Kunstgeschichte gleich hier gradeaus... In der Kirche stand ein Priester und
erklärte einer Reisegesellschaft eine Sammelbüchse. «Diese Kasse ist für die
Errichtung einer Madonna bestimmt, die hier stehen und Gavarnie gegen die
Lawinen schützen soll.» Wer etwas geben wolle...? Spende man aber fünf Francs,
so dürfe man sich in jenes goldne Buch eintragen. Alle spendeten, alle trugen
ein. In der Ecke stand eine bescheidne Holzbüchse. Für die Armen. Keiner gab
einen Sou.
    Das Dorf war gesteckt voll, sie
waren sämtlich da, die dagewesen sein mußten, kein Wagenplatz, kein
Pferdesattel, kein Eselsrücken war frei.
    In Gèdre aber biegt ein kleiner
Weg ab, und den geht niemand. Fünf Stunden weiter liegt ein andrer Cirque, der
von Troumouse, kein Auto fährt dahin, auf dem ganzen Spazierritt bin ich zwei
Männern begegnet, und die kamen nicht von Troumouse. Es ist ein bißchen
mühselig, und der Franzose wandert nicht. Daher fern von den großen Straßen
wenig Wegweiser, wenig Fußwandrerkarten und himmlische Einsamkeit.
    Ich bekam nur ein Pferd. Pferde
können sich mit den Mauleseln dieser Berge an Sicherheit nicht messen. Das
Pferd klettert, der Esel geht Schritt vor Schritt, wie in einer Ebene. Der Gang
des Esels ist den holprigen Steinen und dem Auf und Ab der steilen Wege
wesentlich angemeßner.
    Ein paar hundert Meter ist da
noch eine Straße, und weil man an ihr vor dem Kriege bis zum August 19x4 gebaut
hat, so kann man an diesem steinernen Kalender so recht sehen, wie es gewesen
ist: erst ist sie geschottert, dann mit spitzen Steinen übersät, dann nur noch
die Erde an den Seiten aufgeworfen, nun wird sie ganz schmal, ein Pfad bleibt
übrig... Zum Bau von Straßen war damals keine Zeit mehr — sie mußten welche
zerstören.
    An Héas kommt man vorüber,
einem kleinen Weiler. Schon vorher, im Steingeröll, steht eine heilige
Jungfrau, weil sie dort den Schäfern erschienen ist und um ein Bildnis gebeten
hat. Héas hat eine Kapelle. Diese Kapelle und ein Haus sind die einzigen Opfer
einer Lawine, die zu Tal kam. In dem verschütteten Haus starben Mutter und
Kind; die Nachbarn hatten in der Sturmnacht nicht einmal den Zusammensturz
gehört. Die Kapelle wird wieder aufgebaut; den Gottesdienst für die Handvoll
Leute, die da noch wohnen, halten sie nebenan ab, in einer kleinen Stube.
    Durch Pferdetrupps und
Rindviehherden hindurch; die Pferde auf Urlaub wiehern dem, auf dem ich sitze,
die neusten Nachrichten aus dem Gebirge zu, und das Pferd nickt mit dem Kopf:
Ja, ja, die Zeiten werden immer teurer... Stunden und Stunden. Dann: Troumouse.
    Wir stehen in der Mitte des
riesigen Kessels. Er ist größer als der von Gavarnie, in seiner völligen
Verlassenheit viel schöner. In der Mitte, in dieser ungeheuren Mitte steht die
‹Vierge des Neiges›, in seltener Instinktlosigkeit weiß gegen den hellgrauen
Hintergrund gestellt und fast verschwindend. Das Standbild war ursprünglich aus
dunkler Bronze, aber sie haben es angepinselt. Von einem schneebedeckten
Gebirgspaß her weht ein eisiger Wind. Der Führer zeigt mir ganz hoch oben einen
kaum erkennbaren Maultierpfad: da hinüber sind früher die Schmuggler nach
Spanien gezogen. Unbegreiflich, wo Maultiere noch gehen können. Weit sieht man
über die Berge; Felsen, etwas Schnee, und dieses stumpfe, büschelweis
aufgesetzte Dunkelgrün, das in den ganzen Pyrenäen zu finden ist. Stille.
    Stunden und Stunden reiten wir
zurück. Oh, der immer wiederkehrende Rhythmus der Bergausflüge! Die ersten
zwanzig Minuten am grauen Morgen sind stumpf, der Leib wandelt, aber die Seele
liegt noch im warmen Bett und schläft. Dann kommt das Erwachen, die Sinne
werden munter; sehen und einatmen und hören und aufpassen, so geht das bis zum
Höhepunkt, der meist kurz nach der Mittagszeit liegt. Dann fällt der Tag
langsam ab —

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