Ein Pyrenäenbuch
wuchsen am 7. April 1875 die
verkürzten Knochen zusammen, und wenn man sieht, daß der Metallabguß dieses
Mirakels im Bureau des Constatations hängt, so wird man füglich nicht mehr
zweifeln. Wenn man nicht wüßte, daß der Abguß ein Jahr nach dem Tode von dem
exhumierten Leichnam abgenommen worden ist, abgenommen worden sein soll... So
ungefähr sieht das wissenschafdiche Material der Kirche aus.
Lourdes ist lediglich ein
Phänomen der Massensuggestion.
Es gibt einen klaren Beweis von
der Richtigkeit dieser These, einen Beweis e contrario. Das ist der Winter.
Im Winter finden keine
Wallfahrten statt, weder die großen französischen noch die internationalen. Im
Winter kommen lediglich ein paar versprengte Touristen, Neugierige,
Hochzeitsreisende, die gelobt haben, nach ihrer Verbindung dorthin zu pilgern —
es kommen aber auch Kranke.
Die Kirchen sind geöffnet, die
Grotte ist geöffnet, man kann beichten und beten, wie im Sommer, man darf
baden, wie im Sommer; man darf das heilige Wasser trinken, wie im Sommer.
Und es gibt keinen Fall der
Heilung im Winter — keinen einzigen!
Es kann keinen geben, weil die
Masse fehlt, die brodelnde, Gebete plappernde, dahinziehende, sich pressende,
chorsingende Masse. Der Pilger ist mit seinem Gott und seiner Grotte allein.
Und da langt es nicht. Da
springt kein Funke über, da bäumt sich nichts auf, da peitscht nichts auf den
Willen ein, da raunt nichts: Gesunde! da ruft nichts: Gesunde! da brüllt
nichts: Steh auf und wandle! Im Winter geschlossen.
Der Arzt mit seinen
Hilfsmitteln: Persönlichkeit, Wartezimmer, Operationssaal, weißer Mantel,
Assistenten — er reicht Lourdes nicht das Zauberwasser. Er ist allein, der
Kranke im Winter ist allein. Lourdes ohne die Masse ist nicht Lourdes.
Und nicht nur zeitlich ist das
Wunder begrenzt — auch örtlich. Es gibt in den letzten vierzig Jahren keinen
Fall, daß jemand aus Lourdes selbst geheilt worden wäre. «Wir sind zu nah»,
sagte mir einer. Die Kirche läßt die Pilger nur wenige Tage zur Grotte
wallfahren — frisch sollen die Eindrücke sein, gewaltig die Intensität, mit der
gewollt und gebetet wird; Gewöhnung ist der Tod. Ein klarerer Beweis ist nicht
möglich.
Am tiefsten hat hier, wie
immer, Freud sondiert. In seiner Untersuchung über ‹Totem und Tabu› findet sich das finstre Loch aufgerissen. «Mit der Zeit verschiebt sich der
psychische Akzent von den Motiven der magischen Handlung auf deren Mittel, auf
die Handlung selbst... Nun hat es den Anschein, als wäre es nichts andres als
die magische Handlung... die das Geschehen erzwingt.» Die magische Handlung in Lourdes
ist das Bad.
Die Quelle hat, wie die
Kleriker triumphierend feststellen, nachgewiesenermaßen nicht den geringsten
therapeutischen Wert, sie ist eine Gebirgsquelle wie hundert andre auch. Aber das
Symbolhafte Bad, das an Heilbäder erinnert, gemahnt den Kranken, daß hier etwas
zu seiner Gesundung vorbereitet wird, er kennt das, ja, ja, es ist ein Bad,
gewiß, er ist in einem Kurort. In einem seelischen.
Um sich herum Kranke.., «Man
fühlt sich nicht so allein in seinem Malheur», hat einmal ein Krüppel gesagt —
Leidensgefährten, Bemitleidende und das Höchste: das Allerheiligste mit dem
Erzbischof selbst dem Kranken zu Ehren! Hier wird das Ich groß geschrieben. Mit
der äußersten Konzentration kehrt sich der Heilwille nach innen, ringt mit der
Krankheit, kämpft: du oder ich!
Und nun ist die große Frage:
Wie weit reicht dieser
Heilwille—?
Sieht man von allen
Schauergeschichten, von allen Übertreibungen, von allen liederlichen Dokumenten
ab, von den Luftblasen, die da aus dem Sumpf hochgurgeln — ein einziger Fall
genügte. Ich nehme ihn an.
Und damit wäre eben nur
erwiesen, daß der Wille des Menschen, dieser allmächtige Wille, dem so viele
Weise so verschiedne Namen gegeben haben, daß dieser Wille fähig ist,
Veränderungen im Gewebe hervorzubringen. Die Kirche, die sich seit Marx mit dem
Sozialismus beschäftigt wie eine Hausfrau mit Wanzenpulver, hat auch Medizin
studiert und unterscheidet in ihrer medizinischen Scholastik sehr scharf. «Eine
Hysterie kann nur eine Funktion hervorrufen, niemals ein krankes Organ ersetzen.»
Wenn aber ein Fall, ein
einziger erwiesen wäre, von demselben Arzt unmittelbar vor und nach der Heilung
beobachtet, attestiert, radiographiert —: wenn der erwiesen wäre, dann sind
eben die Theorien falsch, denn es ist die Naturerscheinung, nach der die sich
zu richten haben, nicht, wie
Weitere Kostenlose Bücher