Ein Regenschirm furr diesen Tag
reckt den Kopf, Margot schaltet das Kofferradio ab. An der Kasse küssen wir uns, genau wie beim letzten Mal vor etwa drei Wochen. Immer noch will ich keine neue Liebesgeschichte. Ich glaube, ich kann die Sätze nicht mehr sagen und nicht mehr hören, die im Verlauf einer Liebesaffäre ausgesprochen werden müssen. Dabei macht Margot es mir leicht. Sie spricht zwar relativ viel, aber das gewöhnliche Liebesgerede kommt nicht von ihr. Ich stecke meine Brieftasche wieder ein. Margot schließt die Ladentür ab, ich folge ihr nach hinten in das Zimmer, das sich seitlich an die Damenabteilung anschließt. Es ist nicht das erste Mal, daß Margot und ich im Anschluß an das Haareschneiden miteinander schlafen. Der Rolladen ist zur Hälfte herabgelassen. Durch eine dicht anliegende Gardine hindurch sehe ich auf einen leeren Innenhof, in dem beim vorigen Mal ein paar Kinder spielten. Heute entdecke ich nur einen kleinen Vogelkäfig im Fenster eines seitlich gelegenen Hauses. Erst jetzt fällt mir auf, daß meine Brille noch auf dem Rand des Waschbeckens liegen muß. Ohne Brille kann ich die beiden Vögel in dem Käfig nicht als Vögel erkennen, sondern nur als zwei bewegliche Flecke. Weil ich ohne Brille bin, kommt mir die Situation trotz ihrer Fremdheit auch intim vor. Nur zu Hause erlaube ich mir, die Brille über längere Zeit abzulegen. Das Umhergehen und Umhersehen ohne Brille ist für mich wie eine Erlaubnis zum zerbröckelnden Leben. Margot ist schon entkleidet. Ich komme nicht auf den Gedanken, daß sie es eilig haben könnte. Sie hilft mir beim Öffnen der Hemdenknöpfe und beim Aufknoten der Schnürsenkel. Wenn ich mich nicht täusche, schert sich Margot nicht viel darum, daß ich vielleicht nicht recht in Liebesstimmung bin. Sie erinnert mich an die Männer, von denen es immer heißt, sie schlafen auch dann mit ihren Frauen, wenn diese gar nicht wollen. Ich meine zu fühlen, daß es ihr Vergnügen macht, mir beim Ausziehen behilflich zu sein. Offenbar schätzt sie diese kleinen komischen Abenteuer während eines langen Arbeitstages. Wieder, wie schon voriges Mal, setzt sie sich auf die Couch, zieht mich zu sich heran und lutscht mir das Geschlecht. Ich sehe abwechselnd auf die beiden beweglichen Flecke am Fenster gegenüber und auf die drei Frisierhauben in der Damenabteilung. Das Plexiglas der Hauben ist grau und rissig geworden. Ich sehe auf die kleine sitzende Margot herunter, die mir jetzt gut gefällt. Obwohl ich keine Abstützung brauche, halte ich mich an ihren Schultern fest. Zweimal bücke ich mich leicht und greife nach ihren kleinen festen Brüsten. Plötzlich fällt mir mein Kurs für Gedächtniskunst ein. Fast gleichzeitig bin ich sicher, daß hinter dieser Idee nichts weiter steht als mein persönlicher Wunsch nach einem eigenen privaten Blättermeer, durch das nur ich allein hindurchgehen darf. Vermutlich hat mir das Zusammensein mit Margot geholfen, den individuellen Hintergrund der Gedächtniskurse zu erkennen. Jedenfalls wäre ich ohne Margot nicht auf diesen Kern gestoßen. Ein Strom von Dankbarkeit zieht durch mich hindurch, ich streichle Margot den Rücken, als hätte ich eben erfahren, daß sie vor und während des Beischlafs friert, genau wie Lisa. Die Dankbarkeit für Margot zeigt sich auch darin, daß mein Glied ungewöhnlich groß und fest wird. Plötzlich ist klar, daß ich nur Lisas leeres Zimmer mit Blättern auffüllen muß, dann habe ich ein für mich reserviertes Blätterzimmer. Ist das Umhergehen in einem Blätterzimmer nicht eine ausgezeichnete Technik, mich von Lisa zu trennen und gleichzeitig zu wissen, daß mir eine Trennung von ihr gar nicht möglich sein wird? Ich muß nur ein paar Plastiktüten mit Platanenblättern auffüllen und sie unauffällig in die Wohnung schaffen und in Lisas Zimmer ausbreiten, das wird schon alles sein. Ich spiele ein paar Sekunden mit diesem Einfall und empfinde Glück. Ich weiß nicht, ob es neues Glück ist, das ich Margot verdanke, oder immer noch altes Glück, das von Lisa übriggeblieben ist. Gleichzeitig fürchte ich mich davor, daß ich als Geisteskranker in Lisas leerem Zimmer sitze, umgeben von zahllosen welken Blättern, wirres Zeug redend. Ich werde immer wieder sagen, daß ich nicht länger bereit bin, ungenehmigtes Leben hinzunehmen. Das wird wie gewöhnlich niemand verstehen. Außer Lisa natürlich, aber Lisa ist nicht da und wird nie wieder dasein. Sie wird mich erst wieder besuchen, wenn ich in einer Anstalt sitze, aber auch dann
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