Ein Regenschirm furr diesen Tag
haben die gleiche Farbe (Bordeauxrot) wie das Oberleder, was bei manchen Puristen auf Ablehnung stoßen wird. Diese Puristen werden sich allerdings auch an dem Bordeauxrot stoßen, weil nach ihrer Meinung ein derartig teurer und seriöser Schuh nur entweder schwarz oder braun (dunkelbraun) sein kann. Das dritte Paar sind Blucher aus Cordovan (Pferdeleder), das teuerste, was es zur Zeit überhaupt gibt. Der Schuh ist zusammengebaut aus einer extrem hohen Zahl von Schaftteilen, die jeweils einzeln vernäht sind. Die Ränder der Schaftteile sind teilweise außen sichtbar, teilweise im Innern des Schuhs verborgen. Der Blucher ist weich wie eine Wollmütze und bringt, obwohl aus vielen Teilen zusammengesetzt, ein Tragegefühl wie aus einem Guß hervor. Von den drei Paaren wird er die beste Beurteilung von mir bekommen. Habedank verlangt, daß ich jedes Paar mindestens vier Tage lang teste. Daran halte ich mich schon lange nicht mehr. Inzwischen kann ich die Laufqualitäten eines Schuhs, insbesondere seine möglichen Druckstellen an den Fersen und vorne in den Kappen, nach rund einem halben Tag klar ausmachen und zutreffend beschreiben. Ich setze mich in das Gras und sehe auf den öden und gleichzeitig beruhigenden Fluß, der breit und langsam herandrängt. Er glitzert und schimmert im Sonnenlicht wie ein geöffneter Kasten mit Silberbesteck.
Nicht weit von hier beugt sich ein schmaler Fußgänger- Steg über den Fluß. Ein Liebespaar geht über den Steg. Ungefähr in der Mitte des Stegs bleibt das Paar stehen und küßt sich eine Spur zu heftig. Es ist, als fühlte sich das Paar überraschend bedroht und als sei der Kuß eine Maßnahme gegen die Bedrohung. Jetzt, nach dem Kuß, scheint das Paar erleichtert und verläßt in gehobener Stimmung die schmale Brücke. Eine stark vernachlässigte Frau kommt von links den Lehmpfad entlang. Sie ist zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und trägt in der linken Hand einen Koffer. Ihre Kleidung, ihre Schuhe und das Haar sind verschmutzt beziehungsweise teilweise verfilzt. Ich gebe mir Mühe, die Frau nicht zu beachten, was nicht ganz meiner inneren Wahrheit entspricht. Denn ich bin gern in der Nähe von Verwirrten, Halbverrückten und Durchgedrehten. Ich stelle mir dann vor, daß ich bald zu ihnen gehören werde. Dann werde ich davon befreit sein, mir einen endgültigen und sicheren Beruf suchen und mein Leben so gestalten zu müssen, daß es zu diesem endgültigen und sicheren Beruf paßt. Und ich werde, wenn ich erst selber verwirrt bin, endlich die Kraft haben, alles niederzuhauen und totzumachen, was nicht in dieses endlich gefundene Leben paßt. Die Frau kommt in meine Nähe und legt ihren Koffer vor mir ins Gras. Es ist ein älterer Pappkoffer mit einem Griff aus Eisenblech. Mir fällt ein, daß ein Koffer das letzte ist, was von einem Menschen übrigbleibt. Wenn ein Koffer nicht mutwillig zerstört wird, hält er ewig. Noch unzerstörbarer als Koffer sind Koffergriffe. Auch dann, wenn die Frau tot und ihr Koffer zerstört sein wird, erinnert der übriggebliebene Blechgriff an ein unerkennbar gewordenes Leben. Ich würde gerne zu der Frau sagen: Seien Sie beruhigt, der Blechgriff Ihres Koffers wird immer für Ihr Leben zeugen. Es ist mir nicht möglich, den Satz auszusprechen. Deswegen wäre (ist) es jetzt angemessen, daß mir die Tränen kommen. Aber mein Gesicht bleibt trocken. Die Frau öffnet den Koffer und zeigt mir seine Leere. Alles, was ich sehe, sind zwei lose herumhängende Befestigungsbänder, mit denen die Frau ein wenig herumspielt. Ich bin sicher, der leere Koffer ist die Erklärung für die plötzliche Angst des sich küssenden Paares. Sie hatten auf der Brücke die Frau mit dem Koffer gesehen und hatten dabei die unabweisbare Empfindung, daß sie selbst bald nichts weiter sein würden als die beiden Hälften eines leeren Koffers. Die Frau kichert und klappt ihren Koffer zu und verschwindet. Ein paar Sekunden später fällt mir meine Mutter ein. Als ich Kind war, ordnete sie oft gegen Mittag Handtasche, Hut, Schal und Schirm wie zum Weggehen auf der Garderobe zurecht. Aber dann ging sie doch nicht weg. Sie setzte sich auf den Stuhl neben das Telefon und betrachtete Handtasche, Hut, Schal und Schirm. Ich kam nach einer Weile zu ihr und betrachtete mit ihr die für das Weggehen hingelegten und dann doch nicht gebrauchten Dinge. Eine halbe Minute später umarmten sich meine Mutter und ich. Wir drückten uns fest und lachten uns in die Gesichter. Ich nehme heute
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