Ein Regenschirm furr diesen Tag
möchte ihn gerne fragen, ob er die Lust verloren hat, sich passende Hemden zu kaufen. Dann könnte ich ihm sagen, daß auch mir diese Lust abhanden gekommen ist. Daraufhin könnten wir in ein Lokal gehen und, nein, das würde nicht passieren. Im Haus gegenüber, im dritten Stock, steht ein junger Mann an einem offenen Fenster und spielt Akkordeon auf die Straße herunter. Ich schaue zu ihm hoch, woraufhin er heftiger spielt, was mir eine Spur peinlich ist. Reglos wie ein kleiner Toter wird ein schlafender Säugling an mir vorübergefahren. Schwalben fliegen in Sechsergruppen über eine kaum belebte Straßenkreuzung. Ich betrachte alle diese Einzelheiten mit übertriebener Aufmerksamkeit, weil ich verhindern muß, daß ich mich bücke und herumliegende Blätter einsammle. Für zu Hause, für mein privates Blätterzimmer. Dabei ist mir klar, daß ich die Idee meines Blätterzimmers immer nur planen, aber nicht ausführen darf. Das Laub darf ich nur lieben, solange es auf der Straße liegenbleibt. Ich darf niemals glauben, ich könnte die Blätter oder mich retten, indem ich einen Teil der Blätter in Lisas ehemaligem Zimmer ausbreite. Aber ich möchte auch nicht an der Scham des vergeblichen Wünschens teilhaben. Die Angst vor der Verrücktheit ist in diesen Augenblicken so stark, daß ich fürchte, nur aus der Angst könnte ihr Anfang hervorgehen. Dann bücke ich mich und erfasse mit einem Griff vier, nein, fünf kräftige Platanenblätter mit feingezackten Rändern und langen Stielen.
5
Auf dem Ufervorland ist außer mir kein Mensch. Rechts zieht sich eine stark frequentierte Umgehungsstraße hin. Das Gebrumm der Autos dringt bis zu mir herunter, stört mich aber kaum. Links plätschert der Fluß; er ist heute ein bißchen lehmig, fast schlammig, wahrscheinlich hat es in der Nacht geregnet. Zwischen Umgehungsstraße und Fluß liegt ein breiter Grasstreifen, der von ein paar hartgetretenen Lehmpfaden durchquert wird. Oben, entlang der ein wenig erhöht liegenden Umgehungsstraße, sind ein paar Bänke übriggeblieben. Die meisten Bänke sind in den letzten Jahren von Rowdys herausgerissen und kaputtgeschlagen worden. Die Stadtverwaltung erneuert die Bänke nicht, was die Attraktivität der Gegend nicht verstärkt. Die Vernachlässigung des Uferstreifens kommt mir jedoch entgegen, weil ich hier unbeobachtet meiner Arbeit nachgehen kann. Seit sieben Jahren bin ich als Schuhtester tätig, und ich kann sagen, daß diese Beschäftigung die bisher einzige meines Lebens ist, der ich habe treu bleiben können, sogar mit zunehmendem Erfolg, was freilich nicht auf eine besondere Befähigung zurückgeht, sondern, wie der für mich zuständige Disponent Habedank gern sagt, auf das ›glückliche Marktschicksal unseres Produkts‹. Ich bin tätig für eine kleine, stark expandierende Fabrik für Luxusschuhe, auf die mich seinerzeit mein damaliger Freund Ipach aufmerksam gemacht hat. Ipach wollte eigentlich Regisseur werden, er wäre es auch fast geworden, aber nach einer überlangen Zeit als Regieassistent am Oldenburger Stadttheater war es ihm nicht mehr gelungen, ein neues Engagement zu finden. Durch Zufall wurde er Vertreter der Schuhfabrik, für die ich heute ebenfalls arbeite. Du mußt den ganzen Tag nur herumlaufen mit ganz neuen Schuhen an den Füßen und dann über deine Empfindungen beim Gehen möglichst genaue Berichte schreiben. Dieser Satz von Ipach gab damals den Ausschlag, daß ich mich in die S-Bahn setzte und mit einer Empfehlung von Ipach den Disponenten Habedank aufsuchte. Ich teste heute einen schweren, rahmengenähten Oxford-Schuh aus poliertem, grubengegerbtem Boxcalf. Die Schnürung ist klassisch geschlossen, symmetrisch bis auf den letzten Millimeter. Durch die Dicke der Sohlen fühlen sich Oxford-Schuhe (trotz des Kalbsleders) oft ein wenig hart an. Ich laufe seit gut einer Stunde in den Oxford-Schuhen herum, aber ich kann diesmal nicht die geringste Bildung von Druckstellen empfinden. Vermutlich liegt es an der beinahe zärtlich eingesetzten Korkausballung, die diesmal der Zuschneider Zappke vorgenommen hat. Zweitens teste ich heute ein Paar ebenso schwerer, ebenfalls rahmengenähter Budapester, die mir persönlich nicht besonders gefallen, bei vielen Männern aber wieder sehr gefragt sind. Die Lochung ist konventionell, jedenfalls auf den Vorderkappen. Für die Hinterkappen hat sich der Zuschneider ein neues Muster ausgedacht, das den Schuh vermutlich fünfzig Mark teurer machen wird. Die Stanzlöcher
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