Ein Regenschirm furr diesen Tag
getippt. Ein Glück, daß Lisa von diesem Schweigestundenplan nie etwas erfährt. Wahrscheinlich würde sie weinen, wenn sie das Wort hören müßte. Lisa brach oft überraschend schnell in ein Weinen aus, hörte mit dem Weinen aber auch schnell wieder auf. Wenn dabei das Telefon klingelte, würgte sie das Weinen sekundenschnell ab und ging an den Apparat. Jetzt würde sie mit fester Stimme sagen, daß ich gerade beim Zahnarzt wäre. Das wäre nicht einmal gelogen, weil ich mich seit Wochen tatsächlich einer Zahnbehandlung unterziehe, die demnächst zu Ende geht, Gott sei Dank. Neulich rief die Zahnarzthelferin an und sagte mit sonnenheller Stimme: Ihre neuen Zähne sind eingetroffen! Ich war sofort sprachlos. Die Zahnarzthelferin wiederholte: Ihre neuen Zähne sind da. Ich hatte nie für möglich gehalten, daß ein solcher Satz je an mich hingesprochen würde. Die Zahnarzthelferin hatte nicht die geringste Ahnung, daß sie eine Barbarin war. Und ich hatte nicht den Mut, es ihr zu sagen. Ich stotterte irgendeinen verlegenen Halbsatz ins Telefon, aus dem die Zahnarzthelferin schließen konnte, daß ich demnächst bei ihr in der Praxis erscheinen und meine neuen Zähne abholen würde. Genau das ist sehr fraglich. Viel wahrscheinlicher ist, daß auch die Zahnarzthelferin von mir einen Schweigestundenplan erhält. Die Sonne flutet in die Wohnung und zeigt mir mein verflustes Leben. Im Sommer fühle ich eine zusätzliche Schuld. Um zehn Uhr abends ist es immer noch hell und morgens um fünf schon wieder. Die Tage dehnen sich unverschämt und machen mir klar, wie sehr ich sie verstreichen lasse. Wenigstens das Telefon hat aufgehört zu klingeln. Es war mit Sicherheit Habedank. Nur er weiß, daß jedes leere Klingeln mich piesackt. Dabei ist es nicht so schwer, sich mit Habedank zu verabreden. Wir würden in seinem Büro etwa eine Stunde lang miteinander reden und dann würde er mir vier oder fünf neue Aufträge geben. Er will nur meine Testberichte, anschließend will er mit mir über Modelleisenbahnen der fünfziger und sechziger Jahre reden, besonders über die Modelle von TRIX und FLEISCHMANN. Gräßlich! Modelleisenbahnen! Guter Gott! Nie hätte ich geglaubt, daß derartige Kindereien einmal wichtig werden könnten. Aber Habedank hat niemand, mit dem er über Modelleisenbahnen reden kann. Ich müßte Habedank sofort anrufen und einen Termin mit ihm vereinbaren. Aber ich gehe am Telefon vorbei in das vordere Zimmer. Jetzt breitet sich Schicksal aus, das nicht genehmigte Leben. Ich bin immer melancholisch geworden, wenn ich kämpfen sollte. Ich werde kämpfen müssen, also werde ich melancholisch. Es ist, als würde ich bis zu den Knien in einem leicht anrüchigen Gewässer stehen. Habedank wird mir den Job wegnehmen, wenn ich nicht mehr mit ihm über Modelleisenbahnen rede. Ich stehe am Fenster und schaue die Straße hinab. Ich beobachte einen jungen Mann, der den Bürgersteig vor dem Verwaltungsgebäude einer Baufirma reinigt. Er erscheint alle vierzehn Tage und bläst mit einem Hochdruckreiniger die herumliegenden Blätter erst eine Weile vor sich her und dann in eine Anlage hinein. Später holt er einen großen blauen Plastiksack aus seinem Auto und stopft die Blätter hinein und schafft sie fort. Das Ordnungsgehabe der Baufirma empört mich. Die Damen und Herren Bauzeichner, Konstrukteure und Statiker legen Wert auf einen total gereinigten Bürgersteig! Kein Stäubchen soll liegen vor ihrem prächtigen Geschäftsgebäude! Nicht einmal ein paar Blätter können sie liegen sehen! Ich frage mich, ob die Damen und Herren nie Kinder gewesen sind, ob es ihnen nie Freude gemacht hat, mit quergestellten Schuhen ein paar Blätter vor sich herzuschieben, ob ihnen das dabei entstehende Geräusch und der Anblick der vor ihren Schuhen zusammengebauschten Blätter nicht geholfen hat, ihre verbiesterte Mutter zu ertragen oder ihre fürchterlichen Lehrer oder das Gewisper ihrer armen Seelen. Sind die Damen und Herren niemals ganz bei sich gewesen und sind sie deswegen so ausgezeichnete Befürworter von total gereinigten Gehwegen geworden?
In diesen Augenblicken kommt mir eine Idee. Ich werde mir für die Angestellten der Baufirma einen Schnellkurs für Gedächtniskunst ausdenken. Ich werde mich INSTITUT FÜR MNEMOSYNE nennen, das klingt modern und neuartig und so, daß jeder Angestelltenzausel wissen will, was das ist. Ich werde an vier oder fünf Abenden einen Grundkurs in der Kunst des Erinnerns anbieten. Ja! Das ist es! Ich
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