Ein Regenschirm furr diesen Tag
knappen Satz hervor, der verunglückt, indem ich ihn ausspreche.
Dann habe ich beschlossen, Sie anzurufen! sagt Frau Balkhausen; Sie haben mich selbst dazu ermuntert! Ich bin doch verbunden mit dem Institut für Gedächtniskunst, oder?
O Gott! Dieses Institut habe ich genauso vergessen wie Frau Balkhausen; ich lache jetzt auch, aber ich merke, ein Lachen wird nicht ausreichen, das Institut vergessen zu machen.
Ich habe so oft über Ihr Institut nachgedacht! sagt Frau Balkhausen.
Viel zu lange reden wir darüber, ob wir uns nachmittags, spätnachmittags oder abends treffen sollen. Ich erinnere mich jetzt, Frau Balkhausen hat beim Institut für Gedächtniskunst, das heißt bei mir und mit mir, eine Erlebniseinheit gebucht. Frau Balkhausen möchte sich am liebsten nachmittags mit mir treffen.
Abends kann man sich ja nur in ein Lokal setzen, sagt sie, aber dann ist man wieder mit diesem schrecklichen Erlebnisproletariat zusammen! Und mit diesen Leuten will ich nichts mehr zu tun haben!
Das Wort Erlebnisproletariat habe ich nie gehört, ich überlege, was ein Erlebnisproletariat sein könnte oder ob Frau Balkhausen dieses Wort nur erfunden hat, um mir eine Vorstellung davon zu geben, daß sie ein anspruchsvoller und schwieriger Mensch ist, der mit Erlebnissen von der Stange nicht zufriedenzustellen ist. Während des ganzen Telefonats schaue ich in mein offenstehendes Blätterzimmer hinein. Die Blätter sind inzwischen ganz trocken geworden und haben sich eindrucksvoll gerollt oder gekrümmt. Augenblicksweise ist mir klar, warum ich mich nach einem Blätterzimmer gesehnt habe. Es sollte wenigstens einen Raum geben auf der Welt, in dem ich nicht erschreckt werden kann. Es sollte wenigstens einen Raum geben, in dem mir nichts zu nahe tritt, in dem keine Forderungen an mich erhoben werden können. Wenn ich zwischen den Blättern umhergehe, verläßt mich sogar das Gefühl, daß ich mit etwas abrechnen müßte. Zweifellos ist das Blätterzimmer eine Erfindung meiner vielleicht listigen Seele.
Ich suche einmalige Erfahrungen, sagt Frau Balkhausen, echte, persönliche Erfahrungen, Sie verstehen mich, oder?
Obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, was ich mit Frau Balkhausen anstellen soll, verabrede ich mich um sechzehn Uhr mit ihr.
An der Schiffsanlegestelle.
An der Schiffsanlegestelle, wiederholt Frau Balkhausen, dann legen wir auf.
In Wahrheit geht der Sommer zu Ende, was mich erheblich mehr interessiert. Das Gras verliert seinen Glanz, und die Blätter werden nicht nur gelb, sie fallen auch noch herunter. Seit Tagen kreisen ein paar Möwen über den Dächern. Wo kommen sie nur her? Vielleicht hat der Regen sie angelockt, vielleicht vermuten sie irgendwo ein großes Wasser. Jetzt schauen sie von weit oben den Hausfrauen dabei zu, wie sie in tiefliegenden Balkonnischen frische Wäsche aufhängen. Jeden Tag öffnen sich ringsum Balkontüren, Frauen erscheinen und prüfen mit der Hand, ob die Wäsche trocken, halb trocken oder fast trocken ist. Von einer älteren Frau, die soeben mit einem Plastikkorb frischer Wäsche auf ihren Balkon tritt, nehme ich an, daß sie durch den Umgang mit ihrer Wäsche leicht verrückt geworden ist. Sie hängt die Wäsche auf und verschwindet wieder in ihrer Wohnung. Aber schon nach zwei Minuten kontrolliert sie zum ersten Mal, ob die Wäsche nicht schon trocken ist. Erneut tritt sie zurück in die Wohnung, aber schon nach kurzer Zeit erscheint sie wieder auf dem Balkon und wiederholt ihre Kontrollgriffe in die Wäsche. Sie läßt es zu, daß sie von ihrer verrückten Ungeduld bis in die Erschöpfung getrieben wird. Vielleicht ist es auch umgekehrt: Nur in der Erschöpfung findet sie momentweise Ruhe vor ihrer Verrücktheit. Innerhalb kurzer Zeit faßt sie zehn- bis fünfzehnmal in die Wäsche, dann sinkt sie plötzlich in einen Korbsessel und bleibt zwischen leicht hin- und herflatternden Bettlaken sitzen. Sie beobachtet eine andere Nachbarin, die nur des Rauchens wegen auf ihren Balkon getreten ist, und schläft dabei ein. Ihr Kopf ist jetzt gegen die hintere Balkonwand gelehnt, der Mund steht offen, die Hände liegen reglos im Schoß. Die links und rechts herunterhängenden Bettlaken sind wie Leichentücher, die gleich über sie ausgebreitet werden. Aber dann erwacht die Frau doch noch einmal und greift sofort in die Wäsche, die noch immer nicht trocken ist. Es ist ein phantastisches Bild. Die Tote erwacht und wendet durch eine Berührung der Leichentücher ihren wirklichen Tod
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