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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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doch noch einmal ab. Die Raucherin ist inzwischen bei ihrer zweiten Zigarette angekommen. Durch das Beobachtetwerden ist sie ein bißchen wütend und aggressiv geworden. Dabei ist niemand da, gegen den sie aggressiv werden könnte. Sie schaut nur flackernd und wehmütig umher und zieht zu heftig an ihrer Zigarette. Wenig später verfange ich mich selbst in den Stricken meiner Verrücktheit. Auf dem Weg zur Toilette schaue ich zu lange in den Flurspiegel und bin plötzlich überzeugt, ich habe wieder das Gesicht eines Elfjährigen. Es ist ein weißliches, rundliches, fast mondförmiges Gesicht mit hellem Haar an den Rändern. Die Augen sind blau und wäßrig, die Lippen kleben trocken aufeinander, die Haut ist ein wenig aufgerauht, im Mund verharrt ein fader Geschmack, der nicht verschwindet, die Kopfhaut juckt immerfort, die Zunge bewegt sich nicht, nur die kleinen Mondaugen irren umher und fragen immerzu: Wann tritt die Qual ins Leben? Und wodurch? Wird mich jemand verspotten? Wird ein anderes Kind bald du kleines Mondkalb zu mir sagen? Und dann meinen lächerlichen Pullover anfassen und mich auch endlich meiner Kleidung wegen verhöhnen? Und werde ich dann nach Hause gehen und mich, wie jetzt wieder, auf ein Sofa setzen und abwarten, bis der Spuk vorüber ist? Mit diesem Gesicht werde ich mich Frau Balkhausen nicht zeigen können. Das Verhuschte, das Erschrockene, das Fliehend-Unfähige meiner Kindheit zieht immer wieder neu durch mich hindurch und drückt mich fast eine Stunde lang auf das Sofa nieder. Dann erhebe ich mich und öffne die Schranktür. Jetzt sind wenigstens zwei merkwürdige Erscheinungen in diesem Raum, ein offener Schrank und ich. Ich fasse wie die Frau auf dem Balkon mit der Hand in die Wäsche, die noch von Lisa gebügelt worden ist. Eines der Handtücher nehme ich heraus und trage es ein wenig in der Wohnung umher. Ich werde müde wie die Frau auf dem Balkon. Ich lege mich zurück auf das Sofa, das zusammengelegte Handtuch dient mir als Kopfkissen. Aus dem Handtuch dringt der Geruch von Lisa, er hilft mir beim Einschlafen. Ich schlafe ungefähr eine Stunde lang. Danach ist der Spuk des Kindergesichts verschwunden.
    Die tagelangen Regenfälle haben den Fluß über die Ufer treten lassen. Die breiten Flußwiesen sind weitgehend überschwemmt. Die Schiffsanlegestelle ist eingezogen worden, der Fluß drängt und stößt und strömt an der steinernen Uferböschung entlang. Frau Balkhausen steht in der Nähe eines Feuerwehrautos und sieht ein paar Männern dabei zu, wie sie mit Sandsäcken die Kellerfenster einiger Häuser abdichten. Frau Balkhausen trägt ein erdfarbenes Kleid und sieht resigniert aus. Geduckt und ein wenig gepeinigt blickt sie zur Seite, als ich auf sie zugehe und sie begrüße. Eigentlich wollen wir spazierengehen, aber dann entdecken wir, daß uns beiden der Anblick des vorübertreibenden Flusses gefällt. Deswegen setzen wir uns auf eine Bank und schauen auf das lehmgelbe Wasser herunter. Kurz darauf spricht Frau Balkhausen über das Problem ihrer Langeweile.
    Ich kann machen, was ich will, sagt sie, ich weiß immer schon vorher, daß ich rasch angeödet sein werde. In den letzten Monaten ist es so schlimm geworden, daß ich dachte, ich muß irgend etwas unternehmen … und dann habe ich wie durch eine Fügung Sie kennengelernt.
    Ich zucke zusammen, was Frau Balkhausen nicht bemerkt.
    An welcher Art von Langeweile leiden Sie? frage ich; ist es eine Einzellangeweile oder eher eine Massenlangeweile?
    Einzellangeweile? fragt Frau Balkhausen.
    Haben Sie das Gefühl, frage ich, daß Sie, wenn Sie mit sich allein sind, die Langeweile in ihrem Inneren entsteht, ohne daß Sie sich wehren können, sie kommt einfach, sozusagen mit bösartiger Plötzlichkeit?
    Ja, genau, mit bösartiger Plötzlichkeit.
    Das ist eine Einzellangeweile, sage ich; oder ist es so: Sie sind mit anderen Menschen zusammen, im Theater oder im Schwimmbad oder sonstwo, Sie unterhalten sich gut, Sie sind ja auch extra ins Theater oder ins Schwimmbad gegangen, weil Sie sich gut unterhalten wollten, aber dann spüren Sie, daß all das, was Sie gut unterhält, in Wahrheit anödet.
    Das kommt genausooft vor! sagt Frau Balkhausen. Und das ist mir besonders peinlich. Ich bin mit vielen Bekannten zusammen, ich bin überzeugt, daß ich mich amüsiere und daß ich mich wohl fühle, und doch fühle ich plötzlich, daß mich nichts wirklich ergreift, daß alles an mir vorübergeht, ein scheußliches Gefühl. Ist das eine

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